Navid Kermani: Deutscher Schriftsteller

Navid Kermani (persisch نوید کرمانی, * 27.

November">27. November 1967 in Siegen) ist ein deutscher Schriftsteller, Reporter, Publizist und habilitierter Orientalist. Er gilt als einer der einflussreichsten Intellektuellen in Deutschland. Sein literarisches Schaffen widmet sich vor allem menschlichen Grenzerfahrungen angesichts des Todes, dem Alltag, den Religionen, Erfahrungen mit der Musik oder der Sexualität. Sein wissenschaftliches Werk setzt sich insbesondere mit dem Koran und der islamischen Mystik auseinander. 2015 erhielt Kermani den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Navid Kermani: Kindheit und Jugend, Wissenschaftlicher Werdegang, Literarischer Werdegang
Navid Kermani (2015)

Kindheit und Jugend

Kermani wurde als vierter Sohn iranischer Eltern geboren, die im Jahr 1959 in die Bundesrepublik Deutschland eingewandert waren. Sein Vater war Arzt und arbeitete im katholischen St.-Marien-Krankenhaus Siegen, Kermanis drei ältere Brüder sind ebenfalls praktizierende Ärzte. Navid Kermani hat die deutsche und die iranische Staatsbürgerschaft. Er wuchs in der vom Protestantismus geprägten Stadt Siegen auf und besuchte dort das Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium und das Gymnasium am Rosterberg (heutiges Peter-Paul-Rubens-Gymnasium). Nach dem Abitur hospitierte er bei Roberto Ciulli am Theater an der Ruhr in Mülheim, bevor er zum Studium nach Köln zog. Bis 2020 war er mit der Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur verheiratet; sie sind Eltern von zwei Töchtern.

Navid Kermani: Kindheit und Jugend, Wissenschaftlicher Werdegang, Literarischer Werdegang 
Navid Kermani in Priština (2013)

Bereits als Schüler im Alter von fünfzehn Jahren arbeitete Kermani als freier Mitarbeiter für die Lokalredaktion der Westfälischen Rundschau. Während seines Hochschulstudiums schrieb er für überregionale deutsche Zeitungen und war von 1996 bis 2000 fester Autor im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Wissenschaftlicher Werdegang

Kermani studierte Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaft in Köln, Kairo und Bonn. In den Semesterferien arbeitete er als Regieassistent und später als Dramaturg am Schauspiel Frankfurt und am Theater an der Ruhr. Seine Magisterarbeit schrieb Kermani 1993 an der Universität Bonn (Betreuer: Stefan Wild und Monika Gronke) über den verfolgten ägyptischen Koranwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid, den er später auch in Kairo traf und der zu einer prägenden Figur für Kermanis religiöses Denken wurde. Unterstützt von der Studienstiftung des deutschen Volkes verfasste er eine Dissertation mit dem Titel Gott ist schön. Damit wurde er 1998 im Fach Orientalistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn unter der Betreuung des Arabisten Stefan Wild und der Iranistin Monika Gronke promoviert; 2006 habilitierte er sich im Fach Orientalistik mit der Schrift Der Schrecken Gottes – Attar, Hiob und die metaphysische Revolte. Von 2000 bis 2003 war Kermani Long Term Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und leitete in dieser Zeit den Arbeitskreis Moderne und Islam. Initiiert wurden mehrere internationale Forschungsvorhaben, darunter das Projekt Jüdische und islamische Hermeneutik als Kulturkritik. Daraus ist der Vorschlag für eine Jüdisch-Islamische Akademie in Berlin erwachsen. Mit dem Buch der von Neil Young Getöteten trat Kermani 2002 erstmals als Schriftsteller in Erscheinung. 2003 verließ Kermani das Wissenschaftskolleg, um nach Köln zurückzukehren, wo er seither als freier Schriftsteller im Eigelsteinviertel lebt.

Auf Kermanis Idee aus dem Jahre 2007 – zusammen mit dem Intendanten des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin, Bernd M. Scherer – geht die am 27. Oktober 2012 in Köln eröffnete Akademie der Künste der Welt zurück.

Literarischer Werdegang

Kermani ist seit 2006 mit dem Schriftsteller Guy Helminger Gastgeber des Literarischen Salons im Kölner Stadtgarten. Das Jahr 2008 verbrachte er an der Villa Massimo in Rom. Seit 2012 leitet er mit dem Dramaturgen Carl Hegemann das „Herzzentrum“ am Hamburger Thalia Theater.

In den Themen seiner literarischen Arbeit kreist Kermani um menschliche Grenzerfahrungen angesichts des Todes, im Alltag, der Erfahrung der Musik oder der Sexualität. Seine Romane und Prosabücher bewegen sich an der Grenze zwischen Autobiografie und Fiktion. Kermanis wissenschaftliche Schwerpunkte liegen in der Ästhetik des Korans und der islamischen Mystik. Kermani ist auch als Reporter aus den Krisengebieten der Welt bekannt geworden. Im September 2014 berichtete er für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel aus dem Irak; im Oktober 2015 reiste er den Flüchtlingen auf deren Route in umgekehrter Richtung von Budapest in die Türkei entgegen. Viele seiner Reportagen, die er vor allem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, das Nachrichtenmagazin Der Spiegel und die Wochenzeitung DIE ZEIT geschrieben hat, erschienen in erweiterten Fassungen auch als Bücher und wurden Bestseller. Mit dem von seinem Vater Djavad Kermani gegründeten Hilfswerk Avicenna hat Kermani nach der Rückkehr von Reportagenreisen Spendenaktionen für Hilfsprojekte in Aceh (Indonesien), auf Lesbos, in Madagaskar und in Tigray initiiert. Kermanis Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. In seinen öffentlichen Stellungnahmen und Reden nimmt Kermani immer wieder Stellung zu Fragen der Gesellschaft, Politik, Religion. Jan Werner Müller bezeichnete ihn in der New York Review of Books als eine der anregendsten intellektuellen Stimmen Deutschlands.

Von 2009 bis 2012 war Kermani Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). 2009 wurde Navid Kermani außerdem zum Korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg ernannt. Im Sommersemester 2010 war Kermani Gastdozent für Poetik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und hielt damit die Frankfurter Poetik-Vorlesungen, die später als Buch unter dem Titel Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe erschienen sind. Im Wintersemester 2011/12 hielt er die Göttinger Poetikvorlesungen, 2014 die Mainzer Poetikvorlesungen. Im Sommersemester 2013 war er Gastprofessor für Ideengeschichte des Islam an der Goethe-Universität Frankfurt. Im Frühjahr 2014 lehrte er als Max Kade Distinguished Visiting Professor deutsche Literatur am Dartmouth College in den Vereinigten Staaten. Von 2017 bis 2020 lehrte Kermani als Gastprofessor Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Zum 1. Januar 2022 wurde Kermani als exklusiver Autor der Wochenzeitung Die Zeit verpflichtet. Am 22. Oktober 2023 las Kermani in der Berliner Philharmonie bei einem Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Robin Ticciati Texte zu Beethovens Neunter Symphonie.

Übersicht des erzählerischen Werks und Charakterisierung von Torsten Hoffmann

Der Literaturwissenschaftler und Hochschullehrer Torsten Hoffmann von der Universität Stuttgart, ausgewiesener und langjähriger Kenner des umfangreichen literarischen Werks Kermanis, ordnet das erzählerische Werk folgendermaßen ein: Kennzeichnend für die meisten seiner literarischen Texte ist eine autofiktionale Anlage (in seinem umfangreichsten Roman Dein Name trägt der Protagonist auch den Namen ‚Navid Kermani‘), ein besonderes Interesse an anthropologischen Grunderfahrungen wie Geburt, Liebe und Tod sowie eine programmatische Kombination von (zum Teil drastischer) Alltagsnähe, Kunstaffinität (unter Einbeziehung von Literatur, Musik, Film und Bildender Kunst) und Religiosität. Die Grenzen zu den eher als Sachbuch rezipierten Texten (wie Ungläubiges Staunen oder Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen) und den Reiseberichten sind dabei fließend – während sich diese Bücher oft literarischer Erzählverfahren bedienen, enthalten viele der literarischen Tete auch essayistische Passagen.

Kermanis erster literarischer Text erschien 2002: Das Buch der von Neil Young Getöteten, in dem sich drei Themenstränge verbinden: erstens die Musik Neil Youngs, der zahlreiche Song-Interpretationen gewidmet sind, zweitens die erstaunliche therapeutische Wirkung dieser Musik auf die Drei-Monats-Kolik, an der die Tochter des Ich-Erzählers in ihrem ersten Lebensjahr leidet, und drittens die von Neil Young maßgeblich geprägte Biographie des Erzählers (dessen Nähe zum Autor ebenso offensichtlich ist wie eine Tendenz zu ironischen Übertreibungen). Wichtigstes Erzählprinzip ist die omnipräsente (Selbst-)Ironie, die es dem Erzähler erlaubt, alle literarischen Großthemen von Gott über die Liebe bis zum Tod in seinen Redefluss zu integrieren, ohne dass der Text damit überladen wirkt. Während in der ersten Hälfte des Textes philosophisch-literarische Reminiszenzen dominieren und die Texte Neil Youngs einer bisweilen philologischen Analyse unterzogen werden, konzentriert sich der zweite Teil auf die mystischen Erfahrungen, die der Erzähler als Kern von Neil Youngs Musik und des eigenen Musikhörens begreift. Schon der rätselhaftete Titel des Buchs geht auf Das Buch der vom Koran Getöteten zurück, eine Handschrift, in der von Mystikern berichtet wird, die den Koran gehört haben und darüber gestorben sind – was den Erzähler an die existenzielle Bedeutung der Musik Neil Youngs für das eigene Leben erinnert. Hier verortet er den Impuls, das Neil Young-Buch zu schreiben, das insofern eine narrative Parallelaktion (mit Ausflügen ins Akademische) zu Kermanis oft zum Narrativen tendierender Dissertation Gott ist schön von 1999 darstellt, die sich der (auch musikalischen) Ästhetik des Korans widmet und das Unterkapitel Die vom Koran Getöteten enthält.

Kermanis zweiter Erzähltext Vierzig Leben enthält vierzig Kurzgeschichten, in denen ungefähr ebenso viele Personen (zumeist nur einmal) auftreten, aus deren Leben ein Detail erzählt wird. Jeder Text ist einem – wie es im Klappentext heißt – Königswort gewidmet: einem jener besonderen Zustände des Menschen, wie sie schon der Sufi-Dichter Khadje Abdollah Ansari um 1000 notiert hat, auf den eine dem Text vorangestellte Liste zurückgeht, die u. a. die Begriffe Liebe, Eifer, Sehnsucht, Besorgnis und Durst enthält. Die Geschichten, die z. B. Von der Hoffnung, Vom Durst und Von der Pflicht heißen, enthalten keine philosophischen Reflexionen über den Begriff (wie es etwa in Adornos ähnlich strukturierter Minima Moralia der Fall ist, auf die sich der Erzähler als wichtigen Bezugspunkt beruft), sondern anekdotenhafte Erzählungen, in denen das jeweilige Titelwort vorkommt. Der Tonfall ist an mündliches Erzählen angelehnt, in langen Schachtelsätzen aber zugleich anspruchsvoll komponiert. Der Vielfalt der Motive und Stimmungen steht eine zeitlich-räumliche Konzentration entgegen: Alle berichteten Ereignisse entstammen der unmittelbaren Gegenwart und handeln von Menschen, die in zumindest lockerer Verbindung mit der Stadt Köln stehen. Zusammengehalten werden die Texte zudem von einem Ich-Erzähler, der bisweilen an den Autor erinnert und vorgibt, alle Geschichten von Verwandten, Freunden oder entfernteren Bekannten erzählt bekommen zu haben.

Der 2005 veröffentlichte Band Du sollst ist das erste Buch Kermanis, in dem kein dem Autor nahestehendes Ich auftritt. Vermittelt von einem unbeteiligten Erzähler, liefert der Text Einblicke in die intimsten Momente von zehn heterosexuellen Paaren (mit einer leichten Präferenz für den männlichen Blick). Über das Leben der Personen erfährt man nicht viel, nicht einmal ihre Namen werden genannt, stattdessen konzentriert sich der Text auf kurze Sex- und Bettszenen – von Ferne klingt Arthur Schnitzlers Skandalstück Reigen nach. Erzählt wird dabei weniger von sexuellen Praktiken als vielmehr von den sich dabei entspinnenden Gesprächen und Gedanken. Fast alle Beziehungen stehen im Zeichen einer unüberwindlichen Nähe. Abgesehen von einer kurzen Erzählung, in der die Möglichkeit einer symmetrischen und emphatischen Liebe aufscheint („Ehre Vater und Mutter“), sind die vorgestellten Beziehungen von Missverständnissen und Täuschungen, Ängsten und Abhängigkeiten, Machtkonflikten und Gewalt geprägt. Auf dem Höhepunkt körperlicher Vereinigung empfinden viele der Figuren eine schmerzliche Einsamkeit – dieser Dialektik der Liebe gilt die besondere psychomikroskopische Aufmerksamkeit der Texte. Den ersten zehn Erzählungen ist jeweils eins der zehn Gebote vorangestellt ist, auf die sich die Texte mit unterschiedlicher Deutlichkeit beziehen.

In dem Kinderbuch Ayda, Bär und Hase wird das Motiv der Vater-Tochter-Beziehung aus dem Neil Young-Buch wieder aufgenommen. Der Bâbâ genannte Vater erinnert an andere Protagonisten aus Kermanis Büchern (und an den Autor): Er hat iranische Eltern, lebt in Köln, ist Fan des 1. FC Köln und von Neil Young. Im Zentrum steht nun aber seine fünfjährige Tochter Ayda, die unter ihrer geringen Körpergröße leidet, und sich – statt mit anderen Kindern – mit einem Bären und einem Hasen anfreundet, die sprechen können. Leitgedanken sind u. a. die multikulturelle Toleranz, die Einsicht, „dass man auch glücklich sein kann, wenn nicht alles vollkommen ist“, sowie das gemeinsame Überwinden von Ängsten.

Kurzmitteilung trägt als erster Text Kermanis die Gattungsbezeichnung Roman. Gewidmet ist er der Kölner Schauspielerin Claudia Fenner, die im Juli 2005 mit 40 Jahren an einem Gehirnschlag gestorben war. Im Text stirbt am gleichen Datum und ebenso überraschend die bei Ford angestellte Maike Anfang, die gemeinsam mit dem Ich-Erzähler Dariusch, einem freiberuflichen Eventmanager, eine Veranstaltung organisieren sollte. Ausgangspunkt des Textes ist die titelgebende SMS, in welcher Dariusch an seinem Urlaubsort von dem plötzlichen Tod der ihm erst flüchtig bekannten Maike Anfang erfährt. Geschildert werden die ersten Tage nach dem Tod, wobei die Frage nach der angemessenen Kommunikation über den Tod ein Leitmotiv darstellt. Betroffen ist Dariusch weniger vom persönlichen Verlust als vielmehr von der plötzlichen Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit. Der Protagonist kann zwar so gebildet wie einfühlsam mit den Angehörigen der Verstorbenen sprechen, wird im Ganzen aber bis zur Karikatur als trotteliger und sexfixierter Macho vorgeführt, der am Ende von seinem Erweckungserlebnis in einem amerikanischen Selbstfindungscenter berichtet. Wenn Kermani in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen den Roman als mißlungene[n] Versuch beschreibt, den spezifischen Schock des Todes in einer konventionellen literarischen Form zu erfassen, ist dieses Urteil vor dem Hintergrund der langen Arbeit an seinem Großroman Dein Name zu lesen, der ursprünglich als Totenbuch konzipiert war und einer anderen Art des Totengedächtnisses verpflichtet ist. Dein Name ist mit seinen 1229 eng bedruckten Seiten der längste Text Kermanis, gilt für viele Kritikerinnen und Kritiker als sein Hauptwerk und stellt eine der originellsten Autofiktionen der Gegenwartsliteratur dar. Erzählt wird der Text von einer Navid Kermani genannten Figur, die zahlreiche, aber nicht alle biographischen Details mit dem Autor teilt. Sie kombiniert die Schreibweisen u. a. von Tagebuch, Beziehungs- und Familienroman, Reisereportage, Internetblog, Brief- bzw. SMS-Roman, poetologischer und wissenschaftlicher Abhandlung, politischem Essay und – das wird als Keimzelle präsentiert – nachrufähnlichen Gedenktexten. Diese kurzen Texte sind Menschen gewidmet, die (fast alle) dem Autor nahestanden und während der auf die Zeit vom 8. Juni 2006 bis zum 11. Juni 2011 datierten Arbeit an dem Roman gestorben sind. Daneben erzählt der Roman auf einer zweiten Ebene seine Entstehungsgeschichte, und zwar nicht nur im Blick auf Poetik und Schreibprozess, sondern auf das ganze Leben der Autorfigur. Der omnipräsenten Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens wird damit der Versuch entgegengestellt, das Gegenwärtige auf möglichst umfassende und unzensierte Weise sprachlich zu konservieren. Als dritter Erzählfaden fungiert die Biographie des iranischen Großvaters, der Mitte der 1980er Jahre in Isfahan gestorben ist und kurz vor seinem Tod eine Autobiographie verfasst hat, die dem Protagonisten 2006 in die Hände fällt und die er mit zunehmender Ausführlichkeit zitiert, paraphrasiert und kommentiert. In hohem Maß selbstreflexiv ist der Roman dadurch, dass zahlreiche Einwände unterschiedlichster Erstleser auf die Manuskriptfassungen wiedergegeben werden, sodass der Roman seine eigene Kritik bereits mitliefert (und sie nicht immer entkräften kann oder will, sondern gerade das Schlechtgeschriebene, das Peinliche, das Weinerliche als Belege des Scheiterns gutheißt).

Dein Name ist eng verwoben mit Kermanis Frankfurter Poetikvorlesungen aus dem Sommersemester 2010, die sich als Vorrede zum Roman lesen lassen (sie enthalten u. a. kommentierte Manuskriptpassagen des Romans, der wiederum aus den Vorlesungen zitiert und diese kommentiert). In den unter dem Titel Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe 2012 auch als Buch veröffentlichten fünf Vorlesungen wird weniger Bilanz gezogen als vielmehr die zukünftige Poetik des unabgeschlossenen Romanprojekts Dein Name erkundet. Jean Paul und Friedrich Hölderlin repräsentieren dabei komplementäre und sich immer wieder gegenseitig in Schach haltende Erzählambitionen: Während Jean Paul den Romanschreiber dazu anspornt, die Totalität des Irdischen in seinen Text zu integrieren, steht Hölderlin für die Seelenreise durch den Himmel, für die Sehnsucht nach dem Absoluten, der sinnlichen wie übersinnlichen Ekstase.

Auf die global angelegte Alles -Poetik von Dein Name folgte mit dem Prosaband Große Liebe ein streng durchkomponierter, in sprachlicher wie thematischer Hinsicht deutlich homogenerer Text. Der Ich-Erzähler blickt als Mittvierziger zurück auf seine erste Liebe, die er als 15-Jähriger für die etwas ältere Abiturientin Jutta empfand. Obwohl die Beziehung nur wenige Tage dauerte, scheint sie ihm in ihrer Intensität noch Jahrzehnte später unübertroffen zu sein. Erzählt wird die Liebesgeschichte in 100 Kapiteln, die von Beginn an den Schreibprozess mitreflektieren. Im Verlauf des Textes wird immer deutlicher, dass den Erzähler weniger die eigene Biographie als vielmehr die Suche nach einer allgemeinen psycho-physischen Matrix der ersten Liebe beschäftigt. Abgeglichen wird die eigene Liebeserfahrung dabei mit der Liebeslehre, die sich in der persischen Literatur insbesondere des 10.–14. Jahrhunderts findet. So spiegelt der Erzähler seine jugendliche Beziehung in einem der berühmtesten Liebespaare der orientalischen Literatur, Leila und Madschnun, und verwebt seine Überlegungen mit den Liebesreflexionen frühislamischer Mystiker. Die eigene Sakralisierung der Sexualität wird dort bereits diskutiert, ebenso die Vergleichbarkeit des ekstatischen Ichverlustes in Religion, Sexualität und Drogenrausch. Im Zentrum des Textes steht letztlich nicht eine möglichst genaue Rekonstruktion der Beziehung zu Jutta, sondern das Erzählen vom Erzählen dieser Liebe.

Als Fortsetzung des Vorgängertextes ist Sozusagen Paris angelegt: Der Ich-Erzähler wird nach einer Lesung aus Große Liebe von seiner Jugendliebe angesprochen, die mittlerweile Bürgermeisterin einer Kleinstadt ist. Das neue Buch schildert die erste Begegnung der beiden nach dreißig Jahren, die sich nach der Lesung bis in den nächsten Morgen zieht. Im Ganzen steht der Text in einem Komplementärverhältnis zu seinem Vorgänger: Ging es dort um die Ekstase der ersten Verliebtheit, rückt nun die Langzeitliebe in den Fokus, vor allem im Hinblick auf Juttas 23-jährige Ehe. Während in Große Liebe aus der Perspektive des Mannes erzählt wurde, wird das nächtliche Gespräch von der Frau dominiert – erstmals in Kermanis Werk steht damit eine weibliche Stimme im Zentrum des Textes. Wie Große Liebe zielt auch Sozusagen Paris auf eine überindividuelle Erkundung des Liebens, ist dabei aber anders justiert: Statt der frühislamischen Mystik sind es die französischen Eheromane des 19. Jahrhunderts bis zu Marcel Proust, mit denen die moderne Liebe abgeglichen wird. Damit verschiebt sich das Nachdenken über Liebe von einem allgemein-anthropologischen zu einem historischen Blickwinkel. Insbesondere an der großen Bedeutung von Kindern für die Lebensführung und die emotionale Stabilität des Ehepaares werden Differenzen zu älteren Eheromanen sowie Spezifika des Liebens und Zusammenlebens im 21. Jahrhundert deutlich gemacht. Den Roman durchziehen wiederum poetologische, oft selbstironische Reflexionen, die hier in Form möglicher Einwände diskutiert werden, die Jutta oder der Lektor gegen den Roman vorbringen könnten – und die in ein emphatisches Bekenntnis zur Kraft der Literatur münden.

Das Alphabet bis S (2023) ist nach Dein Name der umfangreichste Roman Kermanis und lässt sich als Komplementärtext dazu lesen: Während Dein Name auf eine Trennung zwischen dem männlichen Ich-Erzähler und seiner Partnerin zuläuft (die im Roman aber nicht vollzogen wird), blickt Das Alphabet bis S auf eine gescheiterte Ehe zurück. Die Pointe besteht darin, dass der Roman aus der Perspektive eines namenlos bleibenden weiblichen Ichs erzählt wird, dessen Tagebuch ohne Datum den Kern des Textes bildet. Eine strengere Komposition als in Dein Name entsteht zum einen dadurch, dass die 365 Kapitel – beginnend mit Neujahr – ein Jahr abbilden. Zum anderen – darauf spielt der Titel an – arbeitet sich die selbsterklärte Lesschreiberin im Laufe des Jahres alphabetisch durch die ungelesenen Texte ihres Bücherregals und kommt dabei bis zu den mit S beginnenden Nachnamen. Das aus den Vorgängertexten bekannte Spiel mit der Autofiktion erfährt dadurch eine Neuausrichtung, dass Leben, Lektüren und Denken der Protagonistin zahlreiche Parallelen zum Autor Navid Kermani aufweisen (von der muslimischen Herkunft über die schriftstellerische Arbeit und die Fußballaffinität bis zur Bedeutung des Totengedenkens); auch die Verbindung von erzählenden und essayistischen Passagen erinnert an Dein Name. So offensichtlich die Trennung von Autor und Erzählerin also einerseits vollzogen ist, legt der Text andererseits auf ironische Weise nahe, ihn als eine ins Weibliche gespiegelte Version von Kermanis eigenem Leben und Schreiben zu rezipieren. Die dabei entstehende Mischung von komischen Effekten mit der ernsthaften Ambition, die auch im 21. Jahrhundert noch relevante Bedeutung von Geschlechterrollen zu reflektieren, steht im Zentrum des Romans. Der Text kann damit auch als literarisches Plädoyer dafür gelesen werden, identitätspolitische Trennungen zu überwinden.

Werkrezeption

Kermani vermag es, so Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung, auf unangestrengte Weise zu Positionen von Herder, Goethe, Rückert und dem Orientalismus der deutschen Klassik Bezug zu nehmen und sich ebenso kompetent zu Lessing, Kleist, Hölderlin und Kafka zu äußern wie zur Ästhetik des Korans und islamischen Mystik. Bereits Kermanis Erzählung über den kanadischen Rockmusiker Neil Young, Das Buch der von Neil Young Getöteten (2002), wurde zahlreich rezensiert und war bei den Kritikern und dem Publikum ein großer Erfolg. Ende 2023 erschien der Suhrkamp-Band in zehnter Auflage. Mehrfach wurde es für die Bühne adaptiert, unter anderem am Hamburger Thalia Theater. Darüber hinaus wurde nach seinem Roman ein Radiosender benannt, der seit 2010 online Musik präsentiert, die Neil Young gut finden würde oder die die Leute gut finden würden, die auch Neil Young gut finden.

Im November 2005 inszenierte Kermani am Schauspiel Köln Hosea nach Texten der Bibel und Friedrich Hebbels. Sein 2005 veröffentlichtes Buch Der Schrecken Gottes – Attar, Hiob und die metaphysische Revolte wurde von Uwe Justus Wenzel in der NZZ als „heilsam verstörend“ oder von Karl-Josef Kuschel „buchstäblich grenzsprengend“ in der Frankfurter Rundschau bezeichnet. Das Kulturmagazin von Ö1 zieht Parallelen zu früheren Arbeiten Kermanis, deren religiös-vergleichende Metaphysik ebenfalls von der Frage der Theodizee geprägt war.

Mit Verweis auf sein Buch Dein Name erhielt Kermani 2014 den Joseph-Breitbach-Preis. Mit Verweis auf seinen Roman Das Alphabet bis S, der formal an Dein Name anknüpft, wurde Kermani der Thomas-Mann-Preis 2024 zuerkannt, den er am 27. September 2024 im Theater Lübeck erhalten wird.

Kermani setzt sich für die weltanschauliche Neutralität des Staates ein. Der Orientalist kritisiert jedoch einen mit der „kompletten Verdrängung des Religiösen“ einhergehenden „religiösen Analphabetismus“, der zu einer „grundlegenden Verarmung der Gesellschaft“ führe. Daher benennt Kermani die religiöse Toleranz und Religionsfreiheit als bedeutsamen europäischen Wert und fordert, im Sinne der Aufklärung, Rücksicht auf Glauben und Weltanschauung anderer. Den letzten Geheimnissen kommt kein Mensch auf die Spur, warum ist etwas, warum ist nicht nichts und so weiter und so fort. Darum eben entstand Religion: In ihr findet der Mensch einen Umgang mit dem, was er nicht erklären kann. Das ist nicht gegen die Aufklärung, sondern gibt dem einen Ausdruck, was den Verstand übersteigt. Antiaufklärerisch wäre es eher, die Grenzen des Verstands zu ignorieren, so Navid Kermani

Kandidaturen zur Wahl des deutschen Bundespräsidenten

Bei der Wahl des deutschen Bundespräsidenten 2010 gehörte Kermani auf Vorschlag der hessischen Grünen der 14. Bundesversammlung an. Am 23. Mai 2014 hielt Navid Kermani die vielbeachtete Festrede anlässlich der Feierstunde des Deutschen Bundestags zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes.

Für die Wahl des deutschen Bundespräsidenten 2017 wurde Kermani als möglicher Kandidat ins Gespräch gebracht. Der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel wollte ihn nach einem Bericht des Spiegel gemeinsam mit anderen Parteien als Bundespräsident nominieren, doch scheiterte er am Widerstand der Grünen; vor allem von den Realos wurde Kermani abgelehnt, weil sie nach der Bundestagswahl ein schwarz-grünes Bündnis anstrebten und somit kein Signal in Richtung Rot-Rot-Grün senden wollten. Kermani selbst hat sich zu einer möglichen Kandidatur nie geäußert.

Positionen

Irakkrieg (2003)

Den Irakkrieg lehnte Kermani ab. Die Herrschaft unter Saddam Hussein sieht er davon unabhängig als ein schlimmes Terrorregime an, dessen Ende er begrüße. Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung und seinem Buch Strategie der Eskalation meinte Kermani 2005, dass im Irakkrieg nicht nur die USA, sondern auch Europa versagt hätten – und dass die Alte Welt im Begriff sei, dieselben Fehler im Konflikt mit dem Iran zu wiederholen. Der Islamwissenschaftler behauptet, dass das „amerikanische Projekt einer Neuordnung des Nahen Ostens“ den meisten Iranern heute ungleich näherstehe „als die sich so altruistisch gebende Politik der Europäer“. Dass Europa so tue, als gebe es im Iran noch Reformbemühungen, nennt Kermani Selbstbetrug. Als Beleg führt er die von Irans Herrschern geknebelte Pressefreiheit, die inhaftierten Oppositionellen und die Gängelung der Parlamentswahlen zur Wiederherstellung einer „konservativen“ Mehrheit an. „Krieg ist das falsche Mittel. Aber Befreiung nicht das falsche Ziel“, so Kermani.

Festrede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters (2005)

Beim Galaabend zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg kritisierte 2005 Kermani in seiner Festrede Europa als Wertegemeinschaft und die Flüchtlings- und Asylpolitik der EU, stellte diese gar in Frage. Schon seit Jahrhunderten erträumen nach Kermani die Dichter ein Europa ohne Grenzen, ohne Nationalismen.

Kölner Moscheebau (2007)

Am 4. Juni 2007 veröffentlichte Kermani, ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung, eine Reportage über eine Bürgeranhörung zum Moscheebau in Köln-Ehrenfeld, in der er sich von der offenen Gesprächsatmosphäre begeistert zeigte und den anwesenden Bürgern „Demokratie in Reinkultur“ bescheinigte. Es gebe in Köln eine „breite weltoffene Mitte“, die wesentlich toleranter sei als mancher Intellektuelle.

Hessischer Kulturpreis (2009)

2009 erhielt Kermani, nach zwischenzeitlicher Aberkennung – zusammen mit Kardinal Karl Lehmann, dem ehemaligen Kirchenpräsidenten von Hessen-Nassau Peter Steinacker und dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden Salomon Korn – den Hessischen Kulturpreis, dessen Verleihung in dem Jahr unter das Motto interreligiöser Toleranz gestellt war.

Der Preis wurde ihm am 20. März 2009 angetragen, nachdem der ursprünglich vorgesehene Fuat Sezgin die Annahme mit der Begründung, sein Mitpreisträger Salomon Korn befürworte die Militäraktionen Israels, abgelehnt hatte. Am 13. Mai 2009 erfuhr Kermani von der Aberkennung der ihm zugedachten Auszeichnung. Ausschlaggebend für die Aberkennung war, dass Lehmann und Steinacker sich kritisch zu Kermani geäußert hatten. Sie nahmen Anstoß an einem Feuilleton-Artikel Kermanis über ein Kreuzigungsgemälde von Guido Reni, der am 14. März 2009 in der NZZ erschienen war. Darin schrieb Kermani: „Für mich formuliere ich die Ablehnung der Kreuzestheologie drastischer: Gotteslästerung und Idolatrie.“ Im Fortgang jedoch berichtete er von der Erschütterung dieser Auffassung durch die ästhetische Erfahrung: „Erstmals dachte ich: Ich – nicht nur: man –, ich könnte an ein Kreuz glauben.“ Am 24. April 2009 äußerte Lehmann in einem Brief an den hessischen Ministerpräsident Roland Koch, dass er „unter diesen Umständen den Preis nicht in Empfang nehmen kann“, Sein Tonfall wurde von Kommentatoren als „subtil […] diffamieren[d]“, „blasiert“, „infam“ und „herablassend“ wahrgenommen; auch Kermani empfand ihn als „diffamierend“. Letztlich entschlossen sich Lehmann und Steinacker nach einem Gespräch mit Kermani doch zur gemeinsamen Annahme des Preises, der am 26. November 2009 schließlich an die vier Preisträger vergeben wurde. Ministerpräsident Koch entschuldigte sich dabei bei Kermani. Sein Preisgeld spendete Kermani an den Pfarrer der katholischen Gemeinde St. Theodor in Köln-Vingst, Franz Meurer.

Arabischer Frühling (2011)

Im Februar 2011 würdigte Kermani den Arabischen Frühling, denn die Demonstranten seien für „Freiheit, Würde, Rechtsstaatlichkeit, Chancengleichheit“ auf die Straße gegangen. Die Politik westlicher Regierungen kritisierte er. „Kriminalität und Komplizenschaft (mit Diktaturen)“ scheinen, so der Autor, „in einigen europäischen Regierungspalästen normal geworden zu sein“. Positiv betonte er die Rolle von Al-Dschasira, der Sender habe viel zur Debattenkultur beigetragen. Die Berichterstattung deutscher Medien, in denen laut Kermani Leute „darüber schwadronieren, dass im Islam Staat und Politik eins seien“, wies er als „religiös gefärbte koloniale Brille“ zurück; es gehe bei den Protesten nicht um Religion. Zudem wendete er sich gegen den Multikulturalismus als einen Kulturalismus, der Diktaturen begründe: „Man verfällt umgekehrt in den Relativismus und behauptet, dass die Menschen anderswo gar keine Demokratie wollten, weil sie nun einmal anders seien, andere Traditionen hätten“. Solch eine Sicht würde gegen das ursprüngliche linke Ziel, die Gleichheit aller Menschen und die Angleichung der Lebensverhältnisse, wirken. Allgemein habe die „Überbetonung von Andersartigkeit, sei es der Migranten oder der Hartz-IV-Empfänger, […] vor allem die Funktion, Unterschiede – vor allem auch ökonomische Unterschiede – zu zementieren“.

„Triumph des Vulgärrationalismus“ (2012)

Im Rahmen der intensiven öffentlichen Diskussion über das Beschneidungsurteil des Landgerichts Köln von 2012 veröffentlichte Kermani in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel unter dem Titel „Triumph des Vulgärrationalismus“. Hierin wirft er dem Landgericht vor, „mal eben so im Handstreich viertausend Jahre Religionsgeschichte für obsolet zu erklären“. Aufklärung sei nicht nur die Herrschaft der Vernunft, sondern zugleich das Einsehen in deren Begrenztheit. „Der Vulgärrationalismus hingegen, der sich im Urteil des Kölner Landgerichts ausdrückt, setzt den eigenen, also heutigen Verstand absolut.“ Joachim Gauck hat die Bezeichnung „Vulgärrationalismus“ in seinen Stellungnahmen zur Beschneidungsdebatte übernommen.

Rede zur Feierstunde 65 Jahre Grundgesetz (2014)

Am 23. Mai 2014 erinnerte der Deutsche Bundestag in einer Feierstunde an die Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949. Kermani war als Festredner geladen. In seiner Rede analysierte er die Sprache des Grundgesetzes und verglich ihre Wirkmächtigkeit mit der der Lutherbibel. Er sprach über die historischen Fortschritte der Nachkriegszeit und stellte fest, dass das Grundgesetz „Wirklichkeit geschaffen“ habe. Kermani lobte die Bundesrepublik Deutschland, weil sie den Verfassungsnormen Geltung verschafft habe. Zugleich würdigte er die Integrationsbereitschaft und die Bemühungen der deutschen Gesellschaft. Mehrfach erwähnte er Willy Brandt. In Bezug auf ihn sagte er: „Wenn ich einen einzelnen Tag, ein einzelnes Ereignis, eine einzige Geste benennen wollte, für die in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Wort Würde angezeigt scheint, (…) dann war es der Kniefall von Warschau“. Er übte scharfe Kritik an der Einschränkung des Asylrechts durch die Grundgesetzänderung von 1993 („Asylkompromiss“), die er als „Entstellung“ des Artikels 16a und eine „Verstümmelung“ der Verfassung bezeichnete. Dennoch betonte er die Chancen, die die Bundesrepublik gerade auch Einwanderern geboten habe, und schloss die Rede – in deren Namen – mit den Worten „Danke, Deutschland“. Einzelne Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion kritisierten die Rede als einseitig oder tendenziös, Georg Nüßlein (CSU) verließ den Saal. In den deutschen Medien wurde die Rede dagegen positiv aufgenommen und besprochen. Die Universität Tübingen zeichnete sie als „Rede des Jahres 2014“ aus.

Stellungnahme zur Offensive des „Islamischen Staates“ im Nahen Osten (2014)

In der Berliner Zeitung rief Kermani im August 2014 dazu auf, den „Islamischen Staat“ (IS) im Irak auch mit militärischen Mitteln zu stoppen. Er verglich den Konflikt von seiner Bedeutung her mit dem Ersten Weltkrieg und warnte vor einem Genozid an Christen, Jesiden und anderen religiösen Minderheiten. Er wies in seiner Stellungnahme auf die Bedeutung von humanitären Korridoren für Flüchtlinge hin und warnte vor einer „Pol-Pot-Version des Islam“ von „den Grenzen Irans bis an die Küste des Mittelmeers“. In seiner Friedenspreis-Rede rief Kermani im Oktober 2015 dazu auf, sich „womöglich militärisch, ja, aber vor allem sehr viel entschlossener als bisher diplomatisch und ebenso zivilgesellschaftlich“ gegen den Islamischen Staat zu wenden. Er rufe nicht zum Krieg auf, weise aber darauf hin, dass der Krieg „nicht mehr allein in Syrien und im Irak beendet werden“ könne. Er könne „nur von den Mächten beendet werden, die hinter den befeindeten Armeen und Milizen stehen, Iran, die Türkei, die Golfstaaten, Russland und auch der Westen.“

Charlie Hebdo-Rede in Köln (2015)

Kermani hielt am 14. Januar 2015 in Köln auf dem Appellhofplatz auf der Trauerkundgebung “Wir sind Charlie – Für Freiheit und Vielfalt“ des Bündnisses Köln stellt sich quer für die Opfer des islamistisch motivierten Terroranschlags auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris eine Rede, die überregional beachtet und rezipiert wurde. Kermani richtete seine Rede vor allem an die Muslime und ihrem so oft kommunizierten Argument, der Islam habe nichts mit Terror und Gewalt zu tun. Zugleich plädierte er dafür, der Barmherzigkeit wieder mehr Geltung zu verschaffen und vor allem frei zu bleiben.

Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (2015)

Kermanis bewegende Dankesrede Über die Grenzen – Jacques Mourad und die Liebe in Syrien wurde breit rezipiert und kontrovers diskutiert. Sie widmete sich in der Frankfurter Paulskirche dem christlichen Pater Jacques Mourad, der sich dem Islam verbunden fühlt, in Syrien von Terroristen des sogenannten Islamischen Staats aus dem Kloster Mar Elian entführt und von Muslimen wieder befreit werden konnte. Glaubenslehren, die sich offenbar erbittert gegenüberstehen: Islam und Christentum; nun aber als grenzüberschreitend dastehen. Kermani stellte die Schönheit und geistige Tiefe des Islam und zugleich den Terror im Namen des Islams in den Mittelpunkt seiner Rede, wobei auch die Verfehlungen des Westens im Umgang etwa mit Saudi-Arabien thematisiert wurde. Dazu beklagte er den fehlenden gesellschaftlichen Diskurs in unserem Land. Seine Rede beendete er mit einem Gebet für die Patres, für die Christen in Syrien und für die Freiheit in den Ländern des Nahen Ostens.

Die Kölner Botschaft, auch Rheinische Botschaft (2015/16)

Kermani initiierte nach der Kölner Silvesternacht vom 31. Dezember 2015 auf den 1. Januar 2016, in der es vor allem am Kölner Hauptbahnhof und der Domumgebung zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen von Gruppen junger Männer vornehmlich aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum kamen, die Kölner Botschaft, die zahlreiche prominente Kölner und Rheinländer unterzeichnet haben:

Keine Toleranz gegenüber sexueller Gewalt, Kampf gegen bandenmäßige Kriminalität, Konsequenzen aus dem Behördenversagen und Schluss mit fremdenfeindlicher Hetze.

Sie wurde in viele Sprachen übersetzt, darunter ins Arabische und Persische, wurde international beachtet und führte zu zahlreichen Bürgerdialogen. Mit Bezug auf diese Botschaft wurde Kermani 2017 der Bürgerpreis der deutschen Zeitungen verliehen.

Rede an der Ludwig-Maximilians-Universität München (2017)

In einer Rede zum zwanzigjährigen Bestehen des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der LMU München berichtete Kermani von seinem Empfinden während eines Besuches des Vernichtungslagers KZ Auschwitz und davon, wie das Leben und Arbeiten in der deutschen Sprache eine Verantwortung für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges mit sich bringt.

Stellungnahme zur Ausladung von Lisa Eckhart (2020)

Bei der Eröffnung des Hamburger Harbourfront-Literaturfestivals im September 2020 kritisierte er zwei Autoren, die es abgelehnt hatten, mit Lisa Eckhart auf der Bühne zu stehen, was laut Kermani zur Ausladung von Eckhart führte. Eckhart sei wegen ihres Debütromans Omama eingeladen worden, und „[…] die Bühne ist ein öffentlicher Raum, und indem eine unabhängige Jury ihren Roman ausgewählt hat, stand ihr das gleiche Recht zu, diesen öffentlichen Raum zu betreten […].“

Die beiden Autoren stellten klar, dass sie die Ausladung von Eckhart nicht wollten.

Stellungnahme zum generischen Maskulinum (2022)

2022 hat Kermani, aus der Perspektive eines Schriftstellers, in der Wochenzeitung Die Zeit seine Position zum generischen Maskulinum vorgelegt. In diesem Essay bemerkt er, dass das Deutsche die einzige Sprache ist, „aus der die geschlechtsneutrale Verwendung maskuliner Substantive und Pronomen ganz verschwinden könnte.“ Er bedauert dies zutiefst, weil das generische Maskulinum „sehr viel sprachliche Differenzierung“ erlaube, während der Verzicht darauf die Sexualisierung der Sprache befördern und seine Abschaffung „die Gleichberechtigung keinen Schritt voranbringen“ werde. Während z. B. deutsche Autorinnen sich, wo sie nicht ihr Geschlecht herausstellen wollten, noch in den 1970er Jahren selbstverständlich als „Autoren“ bezeichnet haben, sei das generische Maskulinum heute auf dem Rückzug und werde vielfach nicht mehr verstanden:

„Ein Sprachwissenschaftler kann noch so häufig darauf verweisen, dass etwa ein Wort wie »Leser« ein Gattungsbegriff ist und man genau genommen von männlichen Lesern sprechen müsste, wenn ausschließlich Männer gemeint sind – sobald niemand mehr im Wort »Leser« die Leserinnen mithört, hat der Wissenschaftler allenfalls sprachgeschichtlich recht.“

Navid Kermani: Mann, Frau, völlig egal

Die einzigartige stilische Leistung des generischen Maskulinums liegt nach Kermani darin, dass es „den vielfältigen Übergängen, Überschneidungen und Ambivalenzen“, die das Menschsein ausmachen, ungleich viel besser gerecht werde als solche sprachlichen Ausdrucksmittel, die allem und jedem ein biologisches Geschlecht zuweisen. „Sprache […] kategorisiert, das ist ihre Natur als Zeichensystem; das heißt, sie ordnet die vielfältige, ambivalente, in ihrer Komplexität letztlich unendliche Erfahrungswelt einer notwendig begrenzten Anzahl von Begriffen zu. […] Sprache sagt Mann und Frau, obwohl alle Weisheitslehren auf die eine oder andere Weise die Einsicht bereithalten, dass keine menschliche Natur und schon gar nicht unsere Sexualität in eine starre geschlechtliche Dichotomie passt. […] Geschlechtszuschreibungen gehen nicht in zwei, sie gehen aber auch nicht in 27 Kategorien auf.“ Mit dem generischen Maskulinum liege im Deutschen ein Ausdrucksmittel vor, das auf solche Zuschreibungen gänzlich verzichte, so dass Kermani Parallelen zum Persischen sieht, das gar kein Genus kennt und Schriftstellern dadurch u. a. eine homoerotische Dichtung erlaubt, in der gänzlich offen bleiben kann, ob der oder die Geliebte gemeint ist. Im Deutschen dagegen müsse zumindest in der Prosa das Geschlecht des oder der Geliebten stets offenbart werden, was der Einbildungskraft des Lesers kostbaren Raum nehme. Andererseits lasse das generische Maskulinum im Deutschen oft aber Nuancierungen zu, die in anderen Sprachen nicht möglich wären: „Wenn ich etwa eine Mail an meine Freunde verschicke, um sie zu meinem Geburtstag einzuladen, dann rede ich sie bewusst nicht als Freundinnen und Freunde an.“ Die Verwendung des generischen Maskulinums werde oft als Provokation, also als Gegenteil dessen verstanden, was es tatsächlich leiste: einen Verzicht auf Sexualisierung. Gleichzeitig entscheide er sich selbst für eine das männliche und weibliche Geschlecht einbeziehende Anrede aus Gründen der Höflichkeit, wo das generische Maskulinum als Affront wahrgenommen würde.

„Wenn eine männliche grammatische Form die geschlechtliche Identität gerade nicht mehr überginge, sondern im Gegenteil überbetonte, wäre das generische Maskulinum endgültig tot.“

Navid Kermani: Mann, Frau, völlig egal

Ehrenamtliches Engagement

1994 hat Kermani in Isfahan, der Heimatstadt seiner Eltern, ein Sprach- und Kulturzentrum gegründet und bis 1997 geleitet, das 1997 aufgrund der Verschlechterung im deutsch-iranischen Verhältnis schließen musste. Im Herbst 2014 hat Kermani die Schirmherrschaft Willkommen für Flüchtlinge über die Projekte Ehrenamt und Flüchtlinge der Kölner Freiwilligenagentur übernommen, die zusammen mit dem Kölner Flüchtlingsrat angeboten werden.

Auszeichnungen und Mitgliedschaften

Veröffentlichungen (Auswahl)

Monographien

Korrespondenzen

Artikel und Aufsätze (Auswahl)

Hörbücher

  • Was jetzt wichtig ist. Dankesrede Dönhoff Preis, Dankesrede Staatspreis Nordrhein-Westfalen, Trauerrede für Rupert Neudeck, Rede zum 20. Jahrestag des Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Kultur (Ungekürzte Autorenlesung). Argon, Berlin 2020, ISBN 978-3-8398-7124-9.

Literatur

  • Navid Kermani, Martin Schulz, Ansgar Schnurr: Dritte, vierte, fünfte, sechste, siebte Räume. Navid Kermani und Martin Schulz im Gespräch über Bildbeschreibungen im Roman „Dein Name“. In: Barbara Lutz-Sterzenbach, Ansgar Schnurr und Ernst Wagner (Hrsg.): Bildwelten remixed. Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern. transcript Verlag, Bielefeld 2013, S. 247–264.
  • Christoph Gellner: „Literatur, die in den Himmel schaut.“ Der Schriftsteller Navid Kermani. In: Stimmen der Zeit. 232 (139), 1, 2014, S. 43–52.
  • Ruth Bender: „Zugehörigkeit hat auch etwas Heikles“ / Schriftsteller Navid Kermani über Europa und das Deutschsein. In: Neue Presse vom 8. Februar 2018, S. 22.
  • Jörg Döring: Der viel gelesene Redner. Navid Kermani und die Deutschen. In: Steffen Martus, Carlos Spoerhase (Hrsg.): Gelesene Literatur. Populäre Lektüre im Medienwandel. Edition text + kritik, München 2018, ISBN 978-3-86916-763-3, S. 241–251.
  • Torsten Hoffmann (Hrsg.): Navid Kermani. text + kritik 217 (2018), ISBN 978-3-86916-668-1, 95 S.
  • Michael Hofmann, Klaus von Stosch, Swen Schulte Eickholt: Navid Kermani. Königshausen & Neumann, Würzburg 2019, ISBN 978-3-8260-6614-6.
  • Steffen Köhler: Navid Kermani. Politische Romantik als Staatstheologie. J.H. Röll Verlag, Dettelbach 2019.
Commons: Navid Kermani – Sammlung von Bildern

Audios

Einzelnachweise

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