Die Lese- und Rechtschreibstörung, fachsprachlich Legasthenie (von lateinisch legere ‚lesen‘ und altgriechisch ἀσθένεια asthéneia, deutsch ‚Schwäche‘, also ‚Leseschwäche‘), bezeichnet die massive und lang andauernde Störung des Erwerbs der Schriftsprache (geschriebenen Sprache).
Klassifikation nach ICD-10 | |
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F81.0 | Lese- und Rechtschreibstörung |
F81.1 | isolierte Rechtschreibstörung |
F81.3 | kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Eine bloße Leistungsschwäche hingegen (z. B. von Schülern im Vergleich zu Gleichaltrigen) wird als Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) bezeichnet.
Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung haben Probleme mit der Umsetzung der gesprochenen Sprache in geschriebene Sprache (und umgekehrt). Als Ursache werden eine genetische Veranlagung, Probleme bei der auditiven und visuellen Wahrnehmungsverarbeitung, bei der Verarbeitung von Sprache und vor allem bei der phonologischen Bewusstheit angenommen. Ein eindeutiger wissenschaftlich fundierter Beweis steht noch aus (Stand März 2021). Die Legasthenie tritt isoliert und erwartungswidrig auf: das heißt, die schriftsprachlichen Probleme entstehen, ohne dass es für sie ohne gründliche Untersuchung durch einen Neurologen eine plausible Erklärung gibt (wie generelle Minderbegabung oder unzureichende Beschulung).
Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie geht davon aus, dass in Deutschland 4 % der Schüler von einer Legasthenie betroffen sind. Bei frühzeitiger Erkennung können die Probleme in vielen Fällen kompensiert werden; doch je später eine Therapie einsetzt, desto geringer sind in der Regel die erzielbaren Effekte. Dass entsprechende Hoffnungen in der Praxis nur bedingt berechtigt sind, belegt eine Studie der Universitätsklinik München, der zufolge 4 % aller deutschen jungen Erwachsenen nur ein durchschnittliches Rechtschreibniveau von Viertklässlern erreicht haben.
Nach ICD-10, der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme durch die Weltgesundheitsorganisation WHO, ist die Lese- und Rechtschreibstörung eine „Krankheit“. Die WHO unterscheidet zwischen
Neuere Forschungsarbeiten weisen darauf hin, dass auch die Lesestörung isoliert auftreten kann und sich zudem von der isolierten Rechtschreibstörung unterscheidet, da die Störungsbilder mit jeweils unterschiedlichen Problemen im Arbeitsgedächtnis, einem Teilbereich des Gehirns, einhergehen. Die Störungen können zwar auch in Kombination auftreten, hängen aber demnach nicht zusammen. Anders als in der ICD-10 finden sich im DSM-5 aus diesem Grund getrennte Kategorien für Störung des Lesens, des Schreibens, der mathematischen Kompetenzen sowie aller Kombinationen dieser Lernstörungen.
Zu Beginn des Schriftspracherwerbs können Probleme beim Aufsagen des Alphabets, der Benennung von Buchstaben oder dem Bilden von Reimen auftreten. Später zeigen sich Leseprobleme, die folgende Formen annehmen können:
Ebenso können Probleme im Leseverständnis auftreten, die sich folgendermaßen äußern:
Diese Lese- und Rechtschreibfehler sind nicht nur typisch für Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibstörung. Alle Kinder, die das Lesen und Schreiben erlernen, machen anfänglich die gleichen Fehler in verschieden starkem Ausmaß. Bei den meisten Kindern nehmen die Probleme jedoch sehr rasch ab und verschwinden schließlich weitgehend. Kinder mit Legasthenie machen die Fehler wesentlich häufiger, und die Probleme bleiben über lange Zeit stabil. Auffällig ist besonders, dass die Fehler kaum Konstanz erkennen lassen: Weder ist es möglich, stabile Fehlerprofile zu ermitteln, noch gibt es eine bestimmte Systematik der Fehler. Ein und dasselbe Wort wird immer wieder unterschiedlich falsch geschrieben.
Auch wenn eine Legasthenie nicht anhand der Fehlertypen diagnostiziert werden kann, so hat sich doch unter therapeutischen Gesichtspunkten eine Unterteilung der Fehler in die folgenden Fehlerarten als hilfreich erwiesen:
Zur Entstehung einer Lese- und Rechtschreibstörung können vielfältige Ursachen beitragen, wobei in aller Regel verschiedene Faktoren zusammenwirken. Einzelne Einflüsse, wie etwa eine genetische Disposition, führen nicht zwangsläufig zur Herausbildung einer Lernstörung, sondern können durch präventive Maßnahmen im Vorschulalter und intensive Betreuung während der gesamten Schul- und Ausbildungszeit kompensiert werden.
Derzeit werden unter anderem die folgenden Ursachen diskutiert:
Besteht ein Verdacht auf eine Lese- und Rechtschreibstörung, so müssen zunächst organische Ursachen wie das Vorliegen einer Schwerhörigkeit oder Fehlsichtigkeit (Sinnesbeeinträchtigungen) ausgeschlossen werden. Hierzu muss das Kind von entsprechenden Fachärzten untersucht werden. Mit den Eltern sollten ungünstige Rahmenbedingungen geklärt werden wie etwa das Vorliegen seelischer und psychischer Belastungen beispielsweise aufgrund einer Trennung der Eltern, unangemessener Leistungsdruck, die häusliche Arbeits- und Wohnsituation, der Fernsehkonsum usw. Unter Umständen können bereits an dieser Stelle Ursachen für die Leistungsproblematik identifiziert und behoben werden.
Kann keine Ursache der Schwierigkeiten gefunden werden, sollte als Nächstes sowohl der Leistungsstand des Kindes als auch das Leistungsprofil erfasst werden. Hierzu gibt es sowohl eine ganze Reihe standardisierter Verfahren, als auch solche, die auf die Analyse freier Texte angewendet werden können, mit denen die Leistung des Kindes sehr genau beurteilt werden kann.
Zur Abgrenzung zwischen allgemeinen Problemen im schriftsprachlichen Bereich und der Teilleistungsstörung Legasthenie wird entsprechend der 2015 neu geregelten Fassung der Leitlinien neben der Leistung in Lese- und Rechtschreibtests außerdem die Leistung in einem Intelligenztest herangezogen. Eine Legasthenie wird nur dann diagnostiziert, wenn bei schwacher schriftsprachlicher Leistung eine deutlich höhere Intelligenzleistung vorliegt. Die Leistung in der Schriftsprache muss dabei mindestens eine Standardabweichung unter der Klassen- oder Altersnorm liegen. Die Leistungen des Kindes müssen also zu den 15,8 % schwächsten Leistungen der Bezugsgruppe gehören. Das Testergebnis des Intelligenztests muss um 1,5 Standardabweichungen höher liegen als die Leistung im Schriftsprachtest. Das genaue Verrechnungsverfahren bleibt dabei unspezifiziert. Es kann sich also um eine einfache Diskrepanz handeln oder mittels des Regressionsansatzes vorgegangen werden. Eine weniger strenge Diskrepanz von einer Standardabweichung kann angewandt werden, wenn es weitere Evidenz aus klinischen Untersuchungen gibt, z. B. zusätzliche Informationen der Lehrkräfte und Eltern, eine ausführliche Anamnese oder weitere diagnostische Informationen, obwohl Finanzpolitiker die dadurch programmierten höheren Kosten für den Staat (und die Sozialversicherungen) in der Regel negativ bewerten.
Die o. g. Diskrepanzkriterien sind Gegenstand kontroverser Debatten, da allgemein leseschwache Kinder sich in ihren Fehlerprofilen nicht von Kindern mit LRS unterscheiden und beide Gruppen unabhängig von der Intelligenz gleichermaßen von Fördermaßnahmen profitieren (siehe auch Kritik am Legastheniekonstrukt). Dementsprechend haben in der Neuregelung der Leitlinien Fachgesellschaften wie die DGPs Sondervoten gegen das Diskrepanzkriterium vorgebracht und die Diskrepanz konnte nur mit einer knappen Mehrheit von 59 % Zustimmung beschlossen werden. Das sehr einflussreiche DSM-5 (S. 73) verzichtet generell auf dieses Diskrepanzkriterium und schließt lediglich den Bereich kognitiver Minderbegabung aus, es sei denn, die Lese-Rechtschreibfähigkeiten liegen in diesem Fall sehr deutlich unterhalb der anderen schulischen Leistungen. Als Folge gibt es zumindest im englischen Sprachraum keine Unterscheidung zwischen einer allgemeinen Lese-Rechtschreib-Schwäche und einer Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie). Stattdessen werden ohne Unterscheidung alle Kinder mit Schriftsprachproblemen unter der diagnostischen Kategorie „Specific Learning Disorder“ (=Lernstörung) mit den Unterkategorien 315.00 „With impairment in reading“ und 315.2 „With impairment in written expression“ zusammengefasst. Im Unterschied zu den Leitlinien wird dafür der leistungsschwache Bereich für die Schriftsprachleistung dort erheblich enger gefasst und auf die schwächsten 7 % eingegrenzt.
Die Forschungskriterien nach ICD-10, die etwa auch im Multiaxialen Klassifikationsschema nach ICD-10 enthalten sind, beinhalten eine deutlich strengere Fassung dieser Diskrepanzkriterien. Sowohl die Diskrepanz zwischen dem Ergebnis in einem Intelligenzdiagnostikum und einem Schulleistungstest (Lesen, Schreiben, Rechnen; ipsativer Bezug) als auch die Diskrepanz zwischen dem Ergebnis in einem Schulleistungstest und der Leistung, die für ein entsprechendes Alter eigentlich zu erwarten wäre (soziale Bezugsnorm) beträgt 2 Standardabweichungen. Die Berechnung der erforderlichen IQ-Diskrepanz einerseits und der Bezugsgruppendiskrepanz andererseits erfolgt idealerweise unter Zuhilfenahme der z-Transformation anhand von T-Werten und IQ-Punkten.
Die Lese- und Rechtschreibstörung kann sehr effektiv behandelt oder die Lernsituation verbessert werden, wenn sie frühzeitig erkannt wird. Am erfolgreichsten sind präventive Maßnahmen vor dem eigentlichen Schriftspracherwerb oder im ersten Schuljahr. Diese präventiven Maßnahmen basieren auf der Diagnose und Förderung der phonologischen Bewusstheit. Idealerweise sollten potentielle Schwierigkeiten erkannt und angegangen werden, bevor Probleme im Schriftspracherwerb überhaupt in Erscheinung treten.
Bleiben bei einem Kind dauerhafte Probleme in der Schriftsprache bestehen, so empfiehlt es sich, so frühzeitig wie möglich mit der Förderung zu beginnen. Interventionsmaßnahmen entfalten ihre größte Wirkung in den beiden ersten Grundschuljahren; danach chronifizieren die Probleme sehr rasch. Es gibt zahlreiche effektive Verfahren, die je nach Alter des Kindes und der individuellen Symptomatik zu Verbesserungen der Lese- und/oder Rechtschreibleistung führen können. Eine wirksame Förderung muss direkt am Lese- und Schreibprozess ansetzen. Dabei haben sich jene Förderprogramme am wirksamsten erwiesen, die Methoden zur Sicherung der Graphem-Phonem-Zuordnung, zur Untergliederung von Wörtern in kleinere Einheiten (Silben, Morpheme) und das wiederholte Lesen dieser Wortteile trainieren. Meist wird aber kein durchschnittliches Schriftsprachniveau erreicht, und bei einem Teil der Kinder bestehen die Probleme trotz intensiver, langjähriger Förderung fort. In diesen Fällen hat die Entlastung des betroffenen Schülers vom schulischen Notendruck Priorität (siehe „Legasthenie, Gesellschaft und Schule“). Da eine Legasthenie häufig von einer massiven Sekundärproblematik wie z. B. Schulangst begleitet wird, ist oftmals eine Ergänzung durch zusätzliche psychologische Interventionen nötig. Die Behandlung von Begleitstörungen beinhaltet unter anderem:
Aufgrund der Vielzahl an Ansätzen sei an dieser Stelle auf eine Übersicht evidenzbasierter Ansätze des Kultusministeriums Österreich verwiesen. Gemäß den Empfehlungen des Bundesverbands Legasthenie und von Suchodoletz sind folgende Ansätze eher kritisch zu betrachten:
Die korrekte Beherrschung der Schriftsprache gilt in der heutigen Gesellschaft als Merkmal für Bildung und Intelligenz. Kinder und Jugendliche mit LRS waren als dumm oder faul stigmatisiert, lange Zeit wurde ihnen eine höhere Schulbildung versagt.
Die Notwendigkeit, die Berücksichtigung der LRS in der Schule rechtlich zu regeln, wurde 1985 zuerst von Schleswig-Holstein erkannt, das als eines der ersten Bundesländer den sogenannten Legasthenieerlass in Kraft setzte, in welchem Schülern mit diagnostizierter Lese-Rechtschreib-Störung weitreichende Rechte eingeräumt wurden, darunter Zeitzuschläge von bis zu 50 % und Notenschutz (d. h. die Nichtberücksichtigung der Rechtschreibleistung des betreffenden Schülers in allen deutschsprachig unterrichteten Fächern) bei schriftlichen Arbeiten. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat 2003 „Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen“ beschlossen und diese 2007 überarbeitet. Heute verfügt jedes Bundesland über eigene Rechtsvorschriften dazu, wie mit schriftsprachlichen Problemen in der Schule umzugehen ist. Diese Vorschriften variieren von Bundesland zu Bundesland sehr stark, sodass es notwendig ist, sich in die betreffenden Vorschriften gezielt einzuarbeiten.
Hinsichtlich der Möglichkeiten der Berücksichtigung der Lese- und Rechtschreibstörung in schulischen Prüfungen wird rechtlich üblicherweise zwischen dem Nachteilsausgleich und dem Notenschutz differenziert. Der Nachteilsausgleich, insbesondere in der Form der Zeitverlängerung bei Prüfungen, ist rechtlich weitgehend anerkannt. Demgegenüber ist der Notenschutz rechtlich sehr umstritten. In allen Bundesländern ist vorgesehen, dass mit einer Bemerkung im Zeugnis darauf hingewiesen wird, wenn die Rechtschreibung nicht bewertet wurde. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat diese Bemerkungen in Bayern für unzulässig erklärt; den Vermerken fehle eine gesetzliche Grundlage. Diese Entscheidung wurde vom Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 29. Juli 2015 revidiert. Es sei zulässig, darauf hinzuweisen, dass die Rechtschreibung nicht gewertet wurde, jedoch nicht, dass der Schüler Legastheniker sei. Eine gesetzliche Grundlage im Schulgesetz für einen Hinweis auf die Nichtbewertung einzelner Aspekte der Schülerleistung gebe es tatsächlich nicht, andererseits gebe es aber auch keine ausreichende gesetzliche Grundlage für den Notenschutz. Ein ministerieller Erlass sei dafür nicht ausreichend. Fehle es für den Notenschutz an einer gesetzlichen Grundlage, gelte dies auch für seine Folge, die entsprechende Bemerkung im Zeugnis. Beide seien rechtswidrig. Der Schüler könne aber nicht verlangen, dass die rechtswidrig zustande gekommene Note bestehen bleibe und nur der Vermerk getilgt werde, der die Abweichung von den sonst geltenden Leistungsanforderungen dokumentiere. Es bestehe auch aus dem verfassungsrechtlichen Verbot, behinderte Menschen wegen ihrer Behinderung zu benachteiligen, kein Anspruch auf Notenschutz ohne dessen Dokumentation im Zeugnis. Gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sind beim Bundesverfassungsgericht seit 2015 drei Verfassungsbeschwerden anhängig.
Das Bundesverfassungsgericht hat außerdem mit Beschluss vom 9. Juni 2016 der Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 20. September 2012 stattgegeben. Bei dem Beschluss des OVG Lüneburg handelt es sich um das nach viereinhalb Jahren abgeschlossene Hauptsacheverfahren nach einem Eilverfahren aus dem Jahr 2008. Das Bundesverfassungsgericht führt in Rn. 21 seines Beschlusses aus, dass die Frage von grundsätzlicher Bedeutung sei, inwieweit ein Schüler mit Legasthenie einen Anspruch auf Nichtbewertung der Rechtschreibung hat. Die Frage betreffe den Umfang des Anspruchs auf einen behinderungsbezogenen Nachteilsausgleich, den man zwar im Prinzip aus dem Grundsatz der Chancengleichheit als auch dem Benachteiligungsverbot gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ableiten könne. In Rn. 22 weist das Gericht darauf hin, dass bei der Anwendung von Regelungen, die den Lehrkräften einen Spielraum bei der Bewertung der Rechtschreibung geben, geprüft werden müsse, ob bei den Abwertungen die Behinderung, sofern eine solche anerkannt sei, ausreichend berücksichtigt worden sei.
Dem Abiturienten des Jahrgangs 2008, dessen Fall Anlass der o. g. Erörterungen ist, wurde bis 2019 (elfeinhalb Jahre nach seinem Eilantrag) nicht rechtskräftig beschieden, wie Fälle wie seiner grundsätzlich zu handhaben sind, d. h. ob auch nach Aushändigung des Abiturzeugnisses die Note im schriftlichen Prüfungsfach Deutsch geändert und ggf. sein Notendurchschnitt im Abitur um maximal 0,1 Notenpunkte verbessert werden muss. Der Zeugnisvermerk, dass die Rechtschreibung nicht benotet worden sei, ist verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden, bzw. aus Transparenzgründen sogar geboten, wenn damit keine Schlechterstellung von Legasthenikern gegenüber anderen Formen von Behinderung verbunden ist. Diese Praxis darf also nicht auf Fälle der Legasthenie beschränkt sein, sondern muss in allen Fällen erfolgen, in denen die Rechtschreibung oder andere Prüfungsleistungen wegen einer Behinderung oder aus anderen Einzelfallerwägungen nicht bewertet werden.
Aus den Etats des jeweiligen Kultusministeriums bzw. der örtlichen Schulträger werden auf Grund von Erlassen der jeweiligen Länder spezielle pädagogische Maßnahmen in den Schulen finanziert. Dabei handelt es sich vor allem um gezielte, individuelle Förderung als Ergänzung zum normalen Unterricht und die Orientierung des Förderangebots am jeweiligen Entwicklungsstand und Leistungsprofil der Betroffenen.
Zusätzlich zum Schulrecht, das die Berücksichtigung der Legasthenie in der Schule regelt, ist auch das Sozialrecht relevant, das sowohl schulische Regelungen beeinflussen kann als auch die Möglichkeiten und Voraussetzungen einer außerschulischen Förderung und deren Bezahlung regelt. Neben der schulischen Förderung oder wenn die schulischen Fördermöglichkeiten ausgeschöpft sind, besteht die Möglichkeit, die Bezahlung einer außerschulischen Therapie [sic!] einer Lese- und Rechtschreibstörung gemäß § 35a SGB VIII beim örtlich zuständigen Jugendamt zu beantragen. Dies ist, je nach Bundesland, an verschiedene Voraussetzungen (seitens des Schülers und auch der Therapiekraft) geknüpft.
Bei der fremdfinanzierten Therapie geht es in den Ländern, die sich schwer damit tun, alle von LRS betroffenen Schüler als „behindert“ einzustufen (noch im September 2012 sprach z. B. das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht von einem „den Behinderungsbegriff erfüllenden Ausmaß der Legasthenie“), vor allem darum, eine bereits eingetretene oder drohende psychische Behinderung des jungen Menschen durch die psychischen und sozialen Folgen der Störung (seine „sekundäre Neurotisierung“) zu beheben oder abzumildern. Die Aussage einer Gutachterin, es müsse im Fall der LRS „keine Schwerbehinderung vorliegen“ und es seien „auch keine psychischen Probleme im Sinne einer drohenden oder bestehenden seelischen Behinderung wie in § 35a SGB VIII erforderlich“, wurde von Verwaltungsgerichten in Baden-Württemberg, Hessen und Schleswig-Holstein bereits in den 2000er Jahren als zutreffend bewertet.
Zentrale Voraussetzung für eine Finanzierung über Vorschriften des deutschen Sozialgesetzbuchs ist eine Anerkennung des zu Fördernden als „kranker“ oder „behinderter“ Mensch. Folgerichtig dürfen Integrationshelfer, sofern deren Einsatz und Finanzierung überhaupt bei Schülern mit einer isolierten Lese- und Rechtschreibstörung genehmigt werden, im Unterricht nicht pädagogisch tätig werden, da sie für die Förderung der Aufmerksamkeit und der Achtsamkeit, nicht aber dafür zuständig sind, Schülern bei der Vermittlung des Unterrichtsstoffs zu helfen.
Die nordrhein-westfälische Bezirksregierung Düsseldorf hingegen kritisiert die Neigung vieler Lehrkräfte, die „die LRS-Thematik als eine Sache von Fachleuten“ ansähen „und ein psychologisches Gutachten [einfordern], um eine besondere Förderung zu rechtfertigen.“ Im Regelfall müssten Pädagogen, insbesondere Deutschlehrer, in der Lage sein, das Ausmaß des Förderbedarfs eines Schülers selbstständig zu erkennen. Allerdings bestehe, so die Bezirksregierung, die pädagogische Freiheit von Lehrern nur darin, „über das optimale WIE einer Förderung zu entscheiden. Es ist nicht ins Belieben der Lehrkraft gestellt, überhaupt zu fördern oder es sein zu lassen.“
1877 beschrieb Adolf Kußmaul als erster eine Beeinträchtigung des Lese- und Schreiberwerbes, die unabhängig von der Intelligenz auftrat. Er bezeichnete diese als „Wortblindheit“, da er zunächst von einer visuellen Beeinträchtigung ausging. W. Pringle Morgan beschrieb dann 1897 die Symptome, die unabhängig von dem Sehen sind, und vermutete daher eine neurologische Begründung. CJ Thomas entdeckte die familiäre Häufung in den 1910ern und interpretierte hier eine genetische Ursache. Außerdem stellte er fest, dass männliche Personen häufiger betroffen sind. Ranschburg bringt 1916 den Begriff Legasthenie auf. Er setzte sich dafür ein, dass Betroffene außerhalb vom Regelunterricht unterrichtet und in Förderschulen geschickt werden. Er stufte die Kinder als „Geistig minderbemittelt“ ein.
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Betroffenen teils Opfer der Aktion T4.
Die Psychologin Maria Linder forschte in den 1950er und 1960er Jahren in diesem Feld und setzte sich für die Diskrepanz Betrachtung ein. Dies bedeutete, dass eine Legasthenie eine Beeinträchtigung des Lesens und Schreibens ist bei einer durchschnittlichen oder überdurchschnittlichen Intelligenz und normaler Beschulung. Dies führte dazu, dass Ranschburgs Theorien zunehmend infrage gestellt wurden und die Betroffenen wieder in den Regelunterricht integriert wurden. Mit dem ersten LRS-Erlass in Hessen im Jahr 1968 wurden Nachteilsausgleich und staatliche Förderung möglich. In den 1970er Jahren kam eine selbsterklärte „Anti-Legasthenie-Bewegung“ auf, welche die Existenz der Legasthenie anzweifelte und diese auf eine rein fehlerhafte Didaktik reduzierte. Die Ideen dieser Bewegung wurden von den Kultusministerien aufgenommen und zuvor geschaffene Möglichkeiten der Förderung und des Nachteilsausgleiches wurden zurückgenommen. Diese Entscheidung wurde von der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie 1984 stark kritisiert. Als Gegenströmung zu der „Anti-Legasthenie-Bewegung“ und im Kontext der Behindertenbewegung wurde der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie gegründet. Seit den 1990ern gibt es wieder zunehmend LRS-Erlasse, welche in den Bundesländern Zugänge zu Nachteilsausgleichen ermöglichen.
Seit 2016 gibt es den Tag der Legasthenie und Dyskalkulie am 30. September, um auf die Situation von Menschen mit diesen Teilleistungsstörungen aufmerksam zu machen.
Aus der Sicht von Medizinern erscheint die Lese- und Rechtschreibschwäche als eine Krankheit und / oder (in Deutschland) eine Behinderung im Sinne von § 2 SGB IX. So bedauerte der Neurologe Gerd Schulte-Körne 2003 in einem im Deutschen Ärzteblatt erschienenen Artikel, dass sich die deutschen Krankenkassen nicht für die „Krankheit“ Legasthenie zuständig fühlten.
Die Sichtweise, wonach eine Lese-Rechtschreibschwäche eine Behinderung sei, wird von deutschen Gerichten teils bestätigt, teils in Frage gestellt. So entschied das Verwaltungsgericht Kassel in seinem Beschluss vom 23. März 2006: „Bei der Legasthenie, die durch fachärztliches Gutachten bestätigt worden ist, handelt es sich um eine Behinderung i. S. d. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, auf die im Schulrecht Rücksicht zu nehmen ist.“ Das Verwaltungsgericht Hannover hingegen stellte in seinem Beschluss vom 10. Februar 2012 fest: „Schulische Teilleistungsstörungen (hier: Lese-Rechtschreibschwäche - LRS) stellen für sich genommen keine seelischen Störungen im Sinne des § 35a SGB VIII dar.“ Ein Anspruch auf Eingliederungshilfe bestehe erst dann, wenn eine Teilleistungsschwäche zu einer „sekundären Neurotisierung“ geführt habe.
Der Pädagoge Wolfram Meyerhöfer vertritt die These, dass „nicht der Kopf der Kinder […] das Problem“ sei. Die Kategorien Legasthenie und Dyskalkulie dienten, so die als gemeinnützig anerkannte LegakidsStiftung, die Meyerhöfers Ansicht verbreitet, nicht dazu, „um die damit verbundenen Lernphänomene zu verstehen, sondern um Fragen der Ressourcenzuweisung zu bearbeiten.“ Der Hintergrund dieses Verfahrens bestehe darin, „dass eine fachärztliche Bescheinigung Voraussetzung dafür ist, dem Kind in der Schule einen Nachteilsausgleich zu gewähren.“ Die LegaKidsStiftung warnt davor, Legastheniker als „krank“ oder „behindert“ einzustufen, da eine amtliche Bestätigung dieses Status die Betroffenen unangemessen stigmatisiere. Zusammenfassend vertritt die LegaKids Stiftung die Position: „Die medizinische Diagnose ‚Legasthenie‘ ist irreführend und schadet den Interessen der Kinder.“
Zielinski sah in der Diskrepanzdefinition ein messtechnisches Kunstprodukt ohne klare Konturen, dessen Brauchbarkeit darüber hinaus stark in Frage stünde. Shaywitz et al. bemängelten, dass die Diskrepanzdefinition eher administrative Anforderungen erfülle, für viele aber ein willkürliches Ausschlusskriterium für Fördermaßnahmen darstelle. Die Kritikpunkte im Einzelnen:
Jeder Betroffene mit LRS hat verschiedene Stärken und Schwächen, auf die man mit besonderen Hilfsmitteln und Technologien reagieren kann. Dabei gibt es keine universell anwendbare Lösung für alle Probleme, aber eine behutsame Auswahl der richtigen Ausrüstung und passenden Software wird es jedem Betroffenen leichter ermöglichen, Kompensationsstrategien zu entwickeln, um dadurch auf die Dauer selbständig arbeiten zu können.
Maßnahmen zur Unterstützung von Betroffenen:
Des Weiteren sind Hörhilfen im Einsatz, die mit einem Mikrofon des Lehrers verbunden sind und die Stimme des Lehrers verstärken, nicht aber Umgebungsgeräusche im Klassenzimmer. Diese Hörhilfen dienen dazu, die Hörwahrnehmung und das Lesevermögen zu bessern.
Klare Schriftarten können für Menschen mit Legasthenie eine Erleichterung darstellen. Dazu zählen Dinge wie eine serifenlose Schrift, ein richtiger Abstand zwischen den Buchstaben oder klar zuordenbare Zeichen. Es gibt verschiedene Versuche, diese Prinzipien in einer eigenen Schriftart zu vereinen. Viele dieser Ansätze, wie beispielsweise OpenDyslexic oder die Schriftart Dyslexie, sind allerdings bei Studien durchgefallen und schnitten teils schlechter ab als klassische Schriftarten wie Arial. Dies liegt daran, dass häufig visuelle Probleme als Ursache gesehen werden und dadurch ein falscher Ansatz verfolgt wird. Studien haben ergeben, dass Helvetica, Courier, Arial und Comic Sans einen positiven Einfluss auf den Lesefluss haben und Kursivschrift einen negativen.
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