Die Riemann-Siegelsche Theta-Funktion ist eine spezielle Funktion aus der analytischen Zahlentheorie, einem Teilgebiet der Mathematik.
Sie dient vor allem der Untersuchung von Nullstellen der Riemannschen Zeta-Funktion und damit als Werkzeug im Zusammenhang mit der Riemannschen Vermutung, einem bis heute ungelösten Problem der Mathematik, dessen Lösung Aussagen über die Verteilung der Primzahlen erlauben würde. So lässt sich mit Hilfe der Riemann-Siegelschen Theta-Funktion die Anzahl sogenannter nicht-trivialer Nullstellen der Riemannschen Zeta-Funktion bis zu einem vorgegebenen Imaginärteil angeben. Die Riemann-Siegelsche Theta-Funktion erscheint auch in der Definition von Gram-Punkten – bestimmten reellen Zahlen, deren Lage die Position jener Nullstellen häufig, aber nicht immer, eingrenzt.
Die Theta-Funktion ist nach den beiden deutschen Mathematikern Bernhard Riemann und Carl Ludwig Siegel benannt. Riemann, der 1866 im Alter von 39 Jahren starb, hinterließ zahlreiche private Arbeitsblätter und mathematische Notizen. Der 1896 geborene Siegel nahm sich dieser Unterlagen an und veröffentlichte 1932 eine Arbeit über Riemanns Nachlass zur analytischen Zahlentheorie. Dort behandelte er die heute so bezeichnete Riemann-Siegelsche Formel und damit auch die Theta-Funktion.
Die in diesem Artikel dargestellte Riemann-Siegelsche Theta-Funktion ist zu unterscheiden von anderen mathematischen Funktionen, die ebenfalls den Namen „Theta-Funktion“ tragen, wie etwa der Jacobischen oder der Ramanujanschen Theta-Funktion.
Die Riemann-Siegelsche Theta-Funktion wird für reelles definiert durch
Dabei bezeichnet die Kreiszahl, die imaginäre Einheit, die Logarithmusfunktion, die Gammafunktion und eine Argumentfunktion, die durch folgende Bedingungen eindeutig festgelegt ist: Die Werte der Argumentfunktion sind so zu bestimmen, dass gilt und eine stetige Funktion wird.
Diese Definition lässt sich auch in der Form
schreiben, wenn man für den Hauptzweig des Logarithmus wählt und den Imaginärteil einer komplexen Zahl bezeichnet.
Diese letzte Form der Definition eignet sich auch, um die Riemann-Siegelsche Theta-Funktion für komplexe Argumente zu definieren:
wobei für der Hauptzweig des Logarithmus zu wählen ist.
Die Riemann-Siegelsche Theta-Funktion mit reellem Argument ist eine reell-analytische Funktion. Insbesondere ist sie stetig und beliebig oft differenzierbar. Wie z. B. die Sinusfunktion gehört sie zu den ungeraden Funktionen. Es gilt also für alle . Neben der 0 besitzt sie noch die beiden Nullstellen
Die Theta-Funktion mit reellem Argument nimmt in
ein lokales Minimum bzw. Maximum an. Die dortigen Funktionswerte betragen
Für positive, größer werdende geht gegen ; für negative, kleiner werdende gegen .
Die Riemann-Siegelsche Theta-Funktion mit reellem Argument besitzt eine asymptotische Entwicklung, deren führende Glieder die folgende Gestalt haben:
Bei der Herleitung dieser Entwicklung ersetzt man in der Definition von die Funktion durch deren Stirlingsche Reihe und nutzt eine Identität zwischen dem komplexen Logarithmus und dem Arcustangens sowie dessen Reihendarstellung. Für größere Werte von liefert bereits die nach dem Glied abgeschnittene asymptotische Entwicklung gute Näherungen der tatsächlichen Werte von . Es gilt also
Bei Bedarf kann die Qualität dieser Annäherung mit Hilfe weiterer Glieder der asymptotischen Entwicklung noch gesteigert werden.
Die Riemannsche Zeta-Funktion gehört zu den wichtigsten Funktionen der analytischen Zahlentheorie. Ihre überragende Bedeutung verdankt sie dem Zusammenhang zwischen der Lage ihrer komplexen Nullstellen und der Verteilung der Primzahlen. Ihre sogenannten trivialen Nullstellen sind die negativen geraden Zahlen, also −2, −4, −6, −8 usw. Daneben besitzt sie auch unendlich viele sogenannte nicht-triviale Nullstellen, von denen bekannt ist, dass ihre Realteile zwischen 0 und 1 liegen. Bernhard Riemann hat in seiner berühmten Arbeit von 1859 die Vermutung geäußert, alle nicht-trivialen Nullstellen der Zeta-Funktion besäßen den Realteil 1/2. Diese These, die bis heute weder bewiesen noch widerlegt ist, wird als Riemannsche Vermutung bezeichnet.
Mit Blick auf die Riemannsche Vermutung versucht man zunächst, Aussagen über Nullstellen der Zeta-Funktion mit Realteil 1/2 zu gewinnen. Dabei stellt es sich als vorteilhaft heraus, nicht direkt mit der Riemannschen Zeta-Funktion zu arbeiten, sondern mit einem nahen Verwandten: der Riemannschen Xi-Funktion . Diese ist für komplexes definiert durch
Auf der rechten Seite eliminieren die Faktoren vor der Zeta-Funktion genau die trivialen Nullstellen der Zeta-Funktion sowie deren Polstelle in 1. Somit sind die Nullstellen der Xi-Funktion identisch mit den nicht-trivialen Nullstellen der Zeta-Funktion. Im Vergleich zur Riemannschen Zeta-Funktion besitzt die Xi-Funktion nun aber den Vorteil, auf der sogenannten kritischen Geraden , , nur reelle Werte anzunehmen. Deshalb kann man einfache Nullstellen der Xi-Funktion mit Realteil 1/2 und somit nicht-triviale Nullstellen der Zeta-Funktion mit Realteil 1/2 finden, indem man auf Vorzeichenwechsel entlang der kritischen Geraden untersucht. Dazu setzt man in ein. Durch einfache Umformungen wird man dann nicht nur auf die Definition der Riemann-Siegelschen Theta-Funktion, sondern auch auf die Definition der Riemann-Siegelschen Z-Funktion geführt:
Dabei bezeichnet den Realteil einer komplexen Zahl. Was nun die Frage nach den Vorzeichenwechseln von entlang der kritischen Geraden angeht, so ergibt der Ausdruck innerhalb des ersten Paars eckiger Klammern für jedes reelle stets einen negativen reellen Wert. Weitere Details dieses Ausdrucks müssen im Zusammenhang mit den gesuchten Vorzeichenwechseln nicht untersucht werden. Die Funktion innerhalb des zweiten Paars eckiger Klammern ist genau die Riemann-Siegelsche Z-Funktion, die nach dem britischen Mathematiker Godfrey Hardy auch als Hardys Z-Funktion bezeichnet wird:
Zur weiteren Vereinfachung drängen nun die beiden Faktoren vor zur Definition einer weiteren Funktion, nämlich gerade der Riemann-Siegelschen Theta-Funktion
denn mit ihrer Hilfe gilt dann
Zusammenfassend ergibt sich nun:
Bei der Suche nach Vorzeichenwechseln der Xi-Funktion und damit nach Nullstellen der Zeta-Funktion auf der kritischen Geraden erscheint die letzte Gleichung auf den ersten Blick wenig gewinnbringend, da der Wert von mit Hilfe von ausgedrückt wird. Allerdings kann der Wert von gut angenähert werden, ohne den Funktionswert berechnen zu müssen. Hierzu dient die Riemann-Siegelsche Formel
in der eine natürliche Zahl und die Kosinusfunktion bezeichnet. In der Riemann-Siegelschen Formel hängt der Wert von nur von und dem gewählten ab, aber nicht mehr von . Dies gilt auch für den Fehlerterm. Mit Hilfe der Theta-Funktion und der Riemann-Siegelschen Formel lassen sich also Näherungen der Werte von und damit Vorzeichenwechsel von bestimmen. Diese Vorzeichenwechsel zeigen einfache Nullstellen der Xi-Funktion auf der kritischen Geraden und somit Nullstellen der Zeta-Funktion mit Realteil 1/2 an.
Ist eine positive reelle Zahl, so bezeichnet man mit die Anzahl aller Nullstellen der Riemannschen Zeta-Funktion mit und . Der Wert von gibt also die Anzahl nicht-trivaler Nullstellen der Zeta-Funktion mit positivem Imaginärteil im sogenannten kritischen Streifen an, der als die Menge der komplexen Zahlen mit Realteil definiert ist. Dabei zählt die Nullstellen entsprechend ihrer Vielfachheiten, wobei bislang nur nicht-triviale Nullstellen mit einfacher Vielfachheit gefunden wurden.
Ist nun kein Imaginärteil einer nicht-trivialen Nullstelle der Zeta-Funktion, so lässt sich mit Hilfe der Riemann-Siegelschen Theta-Funktion und einer Fehlerfunktion der Wert von genau angeben:
Da die Fehlerfunktion für größer werdendes deutlich langsamer wächst als , ist der Wert von annähernd genau gleich .
Die reellen Nullstellen der Funktion werden Gram-Punkte genannt. Ist also eine reelle Zahl mit , so heißt ein Gram-Punkt, benannt nach dem dänischen Mathematiker Jørgen Pedersen Gram. Da die Sinusfunktion ihre Nullstellen in den ganzzahligen Vielfachen von annimmt, ist ein reelles genau dann ein Gram-Punkt, wenn
gilt für ein .
Gram-Punkte werden üblicherweise nach folgendem Schema nummeriert: Wegen sind die drei reellen Nullstellen der Theta-Funktion offensichtlich Gram-Punkte. Die größte dieser Nullstellen in erhält die Nummer 0 und wird mit , mitunter auch , bezeichnet. Größere Gram-Punkte werden entsprechend ihrer Größe aufsteigend durchnummeriert; kleinere Gram-Punkte absteigend. Die nachfolgende Tabelle zeigt die ersten, nicht-negativen Gram-Punkte unter Verwendung dieser Nummerierung:
−3 | 0 | 0 |
−2 | 3,4362182261… | −π |
−1 | 9,6669080561… | −π |
0 | 17,8455995405… | 0 |
1 | 23,1702827012… | π |
2 | 27,6701822178… | 2π |
3 | 31,7179799547… | 3π |
4 | 35,4671842971… | 4π |
5 | 38,9992099640… | 5π |
6 | 42,3635503920… | 6π |
7 | 45,5930289815… | 7π |
8 | 48,7107766217… | 8π |
9 | 51,7338428133… | 9π |
10 | 54,6752374468… | 10π |
11 | 57,5451651795… | 11π |
12 | 60,3518119691… | 12π |
13 | 63,1018679824… | 13π |
14 | 65,8008876380… | 14π |
15 | 68,4535449175… | 15π |
Vergleicht man nun die Gram-Punkte mit kleiner Nummer mit den Imaginärteilen der Nullstellen der Riemannschen Zeta-Funktion entlang der kritischen Geraden, so wechseln sich diese ab. Die falsche These, für alle wechselten sich Gram-Punkte mit den Imaginärteilen dieser Nullstellen ab, wurde von dem amerikanischen Mathematiker John Irwin Hutchinson irreführend als Grams Gesetz bezeichnet. Das erste der unendlich vielen Gegenbeispiele zu diesem „Gesetz“ findet sich im Intervall zwischen den Gram-Punkten
und
Dieses Intervall enthält keinen Imaginärteil einer Nullstelle der Riemannschen Zeta-Funktion. Allerdings verfehlt der auf folgende Imaginärteil der Nullstelle dieses Intervall nur knapp.
Mathematische Lehrbücher zur Riemannschen Zeta-Funktion und Riemannschen Vermutung (englisch: Riemann Hypothesis) enthalten in aller Regel eine Darstellung der Riemann-Siegelschen Theta-Funktion. Diese Lehrbücher wurden überwiegend in englischer Sprache verfasst. Das Buch von Titchmarsh ist ein klassisches und immer noch häufig zitiertes Lehrbuch. Es enthält allerdings kein Stichwortverzeichnis und entspricht nicht der heute üblichen Darstellungsform mathematischer Lehrbücher – im Unterschied zu den Büchern von Ivić, Karatsuba und Voronin. Das Buch von Borwein et al. liefert auf den ersten Seiten eine konzentrierte Zusammenfassung der grundlegenden Eigenschaften der Riemannschen Zeta-Funktion und verwandter Funktionen, während im restlichen Teil des Buches mathematische Originalarbeiten abgedruckt sind. Der Ansatz im Buch von Edwards ist die Erläuterung der Mathematik in Bernhard Riemanns Artikel von 1859.
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