Taurus-Kontroverse: Politische Kontroverse um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörper

Taurus-Kontroverse ist eine Bezeichnung für die seit Sommer 2023 geführte politische Diskussion über die Lieferung von Marschflugkörpern der Bundeswehr des Typs Taurus an die Ukraine.

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine seit 2022 bat die ukrainische Regierung Deutschland 2023 darum, die deutsch-schwedischen Luft-Boden-Marschflugkörper zu liefern. Die Regierung und das Parlament sowie befragte Teile der Bevölkerung sprachen sich im Frühjahr 2024 mehrheitlich gegen die Lieferung der Taurus an die Ukraine aus.

Taurus-Kontroverse: Politische Positionen, Taurus-Abhörfall, Möglicher Ringtausch mit dem Vereinigten Königreich
Marschflugkörper Taurus KEPD-350

Politische Positionen

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) spricht sich kategorisch gegen die Lieferung der Taurus an die Ukraine aus, da dies eine Eskalation im Konflikts darstellen könne. Man könne damit als Kriegspartei in den Krieg hineingezogen werden, insbesondere weil die Taurus eine Reichweite habe, die tief ins russische Territorium (einschließlich Moskau) reiche und nur mit Bundeswehrsoldaten vor Ort eine Einschränkung zu erreichen sei. Teile der SPD lehnen wie der Kanzler eine Lieferung ab; Politiker der Grünen und der FDP sowie Teile der SPD fordern sie. Von der Opposition lehnen die AfD und die Linke die Lieferung ab, während Politiker der Unionsparteien zustimmen. Das Verteidigungsministerium ließ Mitte 2023 prüfen, ob eine Reichweitenbegrenzung technisch möglich sei. Im März 2024 befürwortete Altbundespräsident Joachim Gauck die Lieferung.

Stimmen gegen die Taurus-Lieferung

Im Bundestag stimmten die Regierungsfraktionen (SPD, FDP, Grüne) am 17. Januar 2024 gegen die Lieferung, obwohl die Letzteren sich in der vorausgegangenen Debatte dafür ausgesprochen hatten. Das Vorgehen, Anträge einer Oppositionsfraktion grundsätzlich abzulehnen, ist jedoch im deutschen politischen System über alle Parteigrenzen hinweg und sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene üblich. Wenige Tage später begründete Bundeskanzler Scholz seine ablehnende Haltung damit, Deutschland dürfe mit den Zielen, die dieses System erreiche, „an keiner Stelle und an keinem Ort“ verknüpft sein. Einige würden nicht in Betracht ziehen, ob es durch eine Lieferung zu einer Kriegsbeteiligung kommen könnte. Was vonseiten der Briten und Franzosen bei ihren bereits gelieferten Systemen in Bezug auf Zielsteuerung gemacht werde, könne in Deutschland nicht gemacht werden. Rolf Mützenich, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, zeigte Unverständnis für die Empörung über den behaupteten Geheimnisverrat des Kanzlers. Er sagte: „Wir wissen doch seit Monaten, auch aus Veröffentlichungen aus britischen Medien, dass offensichtlich auch vielleicht britische Soldaten in der Ukraine für das dort gelieferte Waffensystem sind. […] Da wird mittlerweile auch ein Popanz aufgebaut.“ Scholz konkretisierte Ende Februar 2024 hingegen, dass er auch ein Restrisiko vermeiden wolle, weil die Waffe, „wenn sie falsch eingesetzt wird, ein konkretes Ziel irgendwo in Moskau erreichen kann.“ Am 18. März 2024 unterstützte Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), ein langjähriger Freund Wladimir Putins und prorussischer Lobbyist, die Positionen von Scholz und Mützenich.

In einer Umfrage Anfang März 2024 lehnte eine Mehrheit der teilnehmenden Deutschen die Taurus-Lieferungen ab: 61 % sprachen sich dagegen aus. Dies war ein Anstieg von neun Prozentpunkten seit August 2023. Laut Politbarometer befürworteten nur noch 29 % Taurus-Lieferungen.

Stimmen für die Taurus-Lieferung

Am 21. Februar 2024 stimmte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), als einzige Koalitionsabgeordnete für einen Antrag der Unionsfraktion, in dem Bundeskanzler Scholz aufgefordert wurde, der Ukraine den Taurus zu liefern. Der Antrag scheiterte an den Gegenstimmen der Ampelkoalition. Am 12. März 2024 drohte die Unionsfraktion Scholz mit einem Untersuchungsausschuss.

Der Kanzler wurde von verschiedenen Seiten, z. B. dem ehemaligen britischen Verteidigungsminister Ben Wallace, dem französischen Sicherheitsexperten François Heisbourg oder dem CDU-Politiker Norbert Röttgen für unverantwortlichen Umgang mit Geheimdienstinformationen kritisiert. Die britische Regierung widersprach unter anderem der Darstellung des Kanzlers, Großbritannien beteilige sich direkt am Einsatz. Einsatz und Zielauswahl von Storm Shadow seien „Sache der ukrainischen Streitkräfte“. Der Sicherheitsexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations befand die Argumentation des Bundeskanzlers der zwingenden Beteiligung der Bundeswehr für nicht schlüssig. Für die Einführung des Waffensystems wäre der Hersteller und nicht die Bundeswehr zuständig. So sei das auch beim Export nach Südkorea abgelaufen. Der Politikwissenschaftler Thomas Jäger vermutete, dass sich Scholz der widerlegten Tragfähigkeit seiner Argumentation bewusst sei und er etwas wisse, was er der Öffentlichkeit nicht erklären könne oder wolle. Christian Mölling, stellvertretender Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, vermutete hinter der Ablehnung des Kanzlers mangelndes Vertrauen in die Ukraine, dass diese sich an Absprachen bei der Zielauswahl halte. Ende März 2024 übten fünf Historiker in der SPD öffentlich Kritik an der Weigerung des Kanzlers.

Russische Stimmen

Die Staatsduma veröffentlichte im März 2024 ein Statement, in der es eine mögliche Lieferung von Taurus an die Ukraine als Verletzung des Zwei-plus-Vier-Vertrags, in der sich Deutschland dem Frieden verpflichtet, einordnet. Die Duma appellierte an den Bundestag, einer Lieferung von Taurus an die Ukraine nicht zuzustimmen, und warnte vor einer Ausweitung des militärischen Konflikts, sollte Deutschland die Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern. Putin behauptete hingegen, eine mögliche Lieferung ändere auf dem Schlachtfeld nichts, und kommentierte entsprechende Pläne mit „Sie versuchen, uns einzuschüchtern“.

Taurus-Abhörfall

Am 19. Februar 2024 wurde ein vertrauliches Gespräch zum Thema Taurus und dessen möglichem Einsatz zwischen ranghohen deutschen Offizieren, mutmaßlich von Russland, abgehört und Anfang März 2024 in russischen Medien veröffentlicht. Zu den mutmaßlich als Verschlusssache und Staatsgeheimnis zu betrachtenden Inhalten zählten Details zu Fähigkeiten des Flugkörpers wie Flughöhen, Vorbereitungszeit eines Einsatzes, Ausbildungsmöglichkeiten und -dauer der ukrainischen Streitkräfte, die Montage des Taurus an ukrainischen Suchoi-Flugzeugen, die Zielprogrammierung, dazu als mögliche Ziele russische Munitionsdepots und die Krim-Brücke sowie die Auslagerung der Zuarbeit bei der Zielprogrammierung auf die Rüstungsfirma MBDA Deutschland. Die Teilnehmer sprachen auch über das von Briten und Franzosen gelieferte System Storm Shadow/SCALP und die dortige Zusammenarbeit mit den Ukrainern sowie über die Anzahl der einsatzbereiten ukrainischen Trägerflugzeuge. In der Telefonkonferenz wurde auch angedeutet, dass sich britisches und US-Personal in der Ukraine befinde: Sie hätten „mehrere Leute vor Ort“, so Gerhartz. Weiterhin widersprechen manche Gesprächsinhalte der Begründung von Olaf Scholz, es würden keine Taurus geliefert, weil dafür der Einsatz deutscher Soldaten in die Ukraine erforderlich sei. Im April 2024 widersprach auch der Chef des Rüstungskonzerns Airbus Defence and Space, Michael Schöllhorn, dieser Behauptung des Kanzlers.

Möglicher Ringtausch mit dem Vereinigten Königreich

Der Außenminister David Cameron des Vereinigten Königreichs brachte am 9. März 2024 die Idee eines Ringtausches in die Debatte. Bei einem solchen Tausch würde Deutschland Taurus-Marschflugkörper an Großbritannien abgeben – und London seinerseits weitere Flugkörper vom Typ Storm Shadow an die Ukraine liefern. Deutschland könnte die Ukraine damit indirekt unterstützen, ohne dass Taurus-Marschflugkörper mit ihrer hohen Reichweite ins Kriegsgebiet geliefert würden. Die Unionsfraktion im Bundestag sah die Ringtausch-Idee skeptisch. Am besten wäre es, Großbritannien würde sein eigenes System an die Ukraine liefern und Deutschland Taurus-Marschflugkörper, sagte der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Florian Hahn. Während Außenministerin Baerbock am 10. März erklärte, dies sei eine Option, lehnte SPD-Chef Klingbeil eine Debatte über einen Taurus-Ringtausch ab.

Politische Willensbildung im Bundestag

Sondersitzung des Verteidigungsausschusses

Am 11. März trat der Verteidigungsausschuss zu Sitzungen zusammen, Thema waren zum einen der in Russland veröffentlichte Mitschnitt der ungesicherten Schaltkonferenz hoher Luftwaffenoffiziere zum Taurus und zum anderen eine mögliche Lieferung von Taurus-Marschflugkörper. Im geheimen Teil der Sitzung teilte Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer den Abgeordneten mit, dass der Einsatz des Taurus komplizierter ist als von vielen angenommen, und erläuterte das technische und operative Verfahren der Zieldatenplanung. Dabei handelt es sich um große und komplexe Datenmengen, die von speziellen technischen Systemen aufbereitet werden müssen. Diese technischen Systeme seien aber nur in begrenztem Umfang vorhanden, der Taurus sei eine der „wirkmächtigsten Waffen“, mit „quasi strategischen Fähigkeiten“. Die Weitergabe würde die Landesverteidigung gefährden. Manchen Abgeordneten seien die „Kinnladen heruntergeklappt“. Eine mit dem Vorgang vertraute Person berichtete, nach Breuers Vortrag sei erst mal Stille im Raum gewesen. Selbst diejenigen, die sonst laut Forderungen stellen, hätten keine Fragen mehr gehabt. Der Militärexperte und ehemalige Oberst der Bundeswehr, Ralph Thiele, bestätigte: „Tatsächlich geht es bei der Taurus-Lieferung nicht nur um die Bereitstellung von Datenbanken, sondern auch um technologisches Spezialgerät zur Programmierung des Taurus, das Deutschland dann für die eigene Verteidigungsfähigkeit fehlt.“ Aufgrund der Mitteilung dieses internen Berichts von Breuer an die Presse kündigte die Vorsitzende Strack-Zimmermann staatsanwaltliche Ermittlungen wegen Geheimnisverrats an. Am Freitag, den 15. März, bestätigte sie das Vorliegen einer Anzeige. Am selben Tag hatte sie Parlamentspräsidentin Bärbel Bas gebeten, eine „Ermächtigung zur Strafverfolgung wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses und einer besonderen Geheimhaltungspflicht“ zu erteilen.

Abstimmungen im Bundestag

Ein im Januar 2024 von den Unionsparteien eingereichter Antrag auf Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine lehnte der Bundestag mehrheitlich ab. Ein im März 2024 erneut von den Unionsparteien eingereichter Antrag auf Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine lehnte der Bundestag erneut mehrheitlich ab.

Am 14./15. März 2024 scheiterten CDU/CSU zum dritten Mal mit einem Antrag auf Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine im deutschen Parlament. Während der Bundestagsdebatte warben einige Abgeordnete von CDU und CSU für den Antrag, dagegen sprachen sich Redner der SPD, des BSW, der AfD sowie der Linken gegen eine Lieferung der Marschflugkörper aus. SPD-Fraktionschef Mützenich unterstützte die Entscheidung von Bundeskanzler Scholz, keine Taurus-Waffen zu liefern, und regte an, darüber nachzudenken, „wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann.“ Von den 690 an der Abstimmung beteiligten Parlamentarier votierten 495 dagegen. Alle Fraktionen außer der CDU/CSU votierten gegen die Taurus-Lieferung. Nur 190 Abgeordnete waren dafür, dabei zählte die Unionsfraktion 197 Abgeordnete. Es gab fünf Enthaltungen. 48 Abgeordnete aus allen Fraktionen, Gruppen und Fraktionslosen gaben ihre Stimmen nicht ab.

Einzelnachweise

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