1937 Erschießung Belarussischer Kulturschaffender

Die Erschießung belarussischer Kulturschaffender im Jahr 1937, auch bekannt als „Nacht der erschossenen Dichter“ (belarussisch Ноч расстраляных паэтаў), war ein politischer Massenmord an Vertretern der belarussischen Intelligenz sowie an Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft und Kunst, der in der Nacht vom 29.

auf den 30. Oktober 1937 im internen Gefängnis des NKWD und im Pischtschalowski-Schloss in Minsk stattfand. Die Leichen wurden im Kurapaty-Wald vergraben.

1937 Erschießung Belarussischer Kulturschaffender
Gedenktafel in Kurapaty

Ablauf

Bereits in den 1920er Jahren kam es zu Stalinschen Säuberungen in der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik, die es zum Ziel hatten, Eigenständigkeitsbemühungen („Belarussische Wiedergeburt“) zu beenden, welche insbesondere von Kulturschaffenden gefördert wurden. In den Jahren von 1929 bis 1931 kam es zu Verhaftungen, darunter von Uładzimir Žyłka, der 1933 in der Verbannung starb, und Uladsimir Dubouka. Andere, wie Janka Kupala, wurden genötigt, sich von der Wiedergeburtsbewegung loszusagen.

Insgesamt waren zwischen 1929 und 1938 mehr als 500 Menschen aus Belarus vom Großen Terror der Sowjetunion unter Josef Stalin betroffen, wobei die meisten Menschen in der „Nacht der erschossenen Dichter“ getötet wurden. Nach der Ermordung von Sergei Mironowitsch Kirow konnte Stalin gezielte Aktionen durchführen, indem er den Eindruck erweckte, eine Fünfte Kolonne habe die Sowjetunion unterwandert. Anfang 1937 behauptete der NKWD, es existiere ein „Vereinigter antisowjetischer Untergrund“, der auch als „antisowjetische national-faschistische Terrororganisation“ bezeichnet wurde. Mit diesem erdachten Konstrukt konnte gezielt die Elite der Weißrussischen Sowjetrepublik ausgeschaltet werden. Im August 1937 wurden Tausende Werke – darunter Manuskripte – der Beschuldigten verbrannt, da diese belarussischen Literaten „Volksfeinde“ seien. Im September 1937 wurde die Todesstrafe für 103 beschuldigte Personen unterschrieben.

Opfer

Die Zahl der Opfer wird unterschiedlich angegeben und schwankt bei westlichen Angaben zwischen 108 und 132 belarussischen Oppositionellen, Kulturschaffenden und Wissenschaftlern. Darunter befinden sich allein 22 namentlich bekannte Schriftsteller. In Belarus wird die Zahl der Toten in Geschichtsbüchern deutlich geringer angegeben.

In Hinsicht auf die sehr unterschiedlichen Biographien wurden auch angepasste Begründungen für die Todesurteile gewählt: Der jüdische Autor Isi Charik wurde beschuldigt, „Mitglied einer trotzkistisch-sinowjewistischen Organisation“ zu sein. Platon Halawatsch hingegen wurde unter Folter gezwungen, sich selbst als „Organisator einer terroristischen Gruppe“ zu beschuldigen, die zur „Durchführung deutsch-faschistischer Aktivitäten“ gegründet worden sei. Auch die Familienmitglieder wurden teilweise mit verurteilt. So wurden die Frauen von Charik und Halawatsch als „Familienmitglied eines Vaterlandsverräters“ zu je acht Jahren Lagerhaft verurteilt und nach Kalaganda deportiert, wo ein umfangreiches Lagersystem bestand. Sie erfuhren teils erst Jahrzehnte später vom Tod ihrer Verwandten, wobei zunächst auch die Erschießung verschwiegen wurde. Einzelne Angehörige erhielten in den 1990er Jahren Zugang zu den Akten ihrer Verwandten und erfuhren erst dann das Todesdatum.

Bekannte Personen

1937 Erschießung Belarussischer Kulturschaffender 
Teil der Schriftsteller zu Lebzeiten

Schriftsteller, Dichter, Literaturkritiker: Michas Tscharot, Todar Kljaschtorny, Ales Dudar, Jurka Ljawonny, Anatol Wolny, Michail Kasjankou, Platon Halawatsch, Julij Taubin, Walery Marakou, Moische Kulbak, Isi Charik, Wasil Staschewski, Janka Njomanski, Zjama Piwowarow, Serhej Murzo, Vasyl Kaval, Aron Judelson.

Staatsmänner: Maksym Lewkow, Lew Moisejev, Boris Malov, Boris Marjanov, Smiser Selov, Andrej Turlaj, Aleksandr Woronchenko, Viktor Jarkin, Zakhar Kawalchuk, Aleksandr Chernushewich.

Wissenschaftler: Ananij Djakow, Iwan Zhivutskyi, Naum Zamalin, Iwan Karpenko, Jelisar Masel, Stepan Margelov, Pawel Muchin, Hryhorij Protasenia, Mikhai Rydewskyj, Pantelej Serdjuk, Jewgenij Uspenskyj, Josif Korenewskij:

Die Opfer wurden in den 1950er Jahren rehabilitiert.

Gedenken

1937 Erschießung Belarussischer Kulturschaffender 
Aktion im Kurapaty-Trakt

Im Zuge der Glasnost wurde das Areal des Kurapaty-Waldes ab 1988 als Ort der Massenerschießungen identifiziert und erschlossen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erfolgte keine weitere Aufarbeitung der Verbrechen. Die Akten des KGB blieben für umfangreichere Recherchen verschlossen, der belarussische Staat verurteilte offiziell nie die stalinistischen Verbrechen und beendete aufkommende Nachforschungen der 1990er Jahre schließlich. Im Kurapaty wurde allerdings eine schlichte Gedenkstätte geschaffen, weshalb dort seit dem Oktober 2017 auch alljährlich Gedenkveranstaltungen stattfanden. Diese waren nicht staatlich organisiert, sondern von Privatleuten. In Minsk fanden zudem thematische Vorträge in Hinterhöfen statt. Die Bedeutung der Veranstaltungen nahm im Laufe der Jahre zu. So besuchten internationale Abgesandte noch im Oktober 2021 eine Grabstätte stalinistischer Opfer im Wald. Weltweit wurde in diesem Jahr in 38 Städten in 18 Ländern dieser Massenhinrichtung mit Veranstaltungen gedacht.

Seitdem wurden die Gedenkveranstaltungen aufgrund der inländischen Repressalien vollständig von Belarus ins Ausland verlegt. So gedachten im Oktober 2022 im Exil lebende belarussische Intellektuelle der Toten durch eine Lesung von Werken der Opfer auf einer Veranstaltung in der Nähe des KGB-Museums in Vilnius, auf der auch ein Theaterstück aufgeführt und Werke aktuell verfolgter Belarussen vorgetragen wurden. In diesem Jahr, dem 85. Jahrestag, waren es 40 Städte in 21 Ländern, in denen Gedenkveranstaltungen stattfanden.

Rezeption

Im 21. Jahrhundert wurden eine Reihe von Liedern belarussischer Künstler erstellt, die auf den Gedichten der Hingerichteten basieren.

Literatur

  • Леанід Маракоў (Leanid Marakou): Ахвяры і карнікі (Achwjary i karniki, deutsch: Opfer und Bestrafer). Зміцер Колас (Smizer kolas), Minsk 2007, ISBN 978-985-6783-38-1 (PDF-Download, kamunikat.org, 3,46 MB).
  • Сяргей Грахоўскі (Sjargej Grachouski): «Так погибали поэты» (Tak pogibali poety, deutsch: So starben die Dicher, Ausgewählte Werke). Кнігазбор (Knigasbor), Minsk 2007, ISBN 985-6824-59-1.
  • М. Касцюк (M. Kaszjuk): Бальшавіцкая сістэма ўлады на Беларусі (Balschawizkaja sistema ulady na Belaruysi, deutsch: Bolschewistisches Machtsystem in Weißrussland). ВП «Экаперспектыва» (WP „Ekaperspektywa“), Minsk 2000, ISBN 985-6102-30-8.
  • Аляксандар Лукашук (Aljaksandar Lukaschuk): Мова гарыць… (загад № 33) (Mowa garyz (Sagad № 33), deutsch: Die Sprache brennt (Befehl Nr. 33)). In: Спадчына (Spadtschyna, deutsch: Erbe) № 3, 1996, S. 76–91, Online-Version.
  • А. Дзярновіч (A. Dejarnowitsch): Рэабілітацыя: Зборнік дакументаў і нарматыўных актаў па рэабілітацыі ахвяраў палітычных рэпрэсіяў 1920–1980-х гадоў у Беларусі (Reabilitazyja: Sbornik dakumentau i narmatyunych aktau na reabilitazyi achwjarau palitytschnych represijau 1920–1980 gadou u Belarusi, deutsch: Rehabilitation: Eine Sammlung von Dokumenten und Vorschriften zur Rehabilitation von Opfern politischer Repressionen der 1920er—1980er Jahre in Weißrussland). Athenaeum, Minsk 2001, (Athenaeum, Т. III; Архіў найноўшае гісторыі, Archiu najnouschae historyi, deutsch: Archiv der neueren Geschichte), ISBN 985-6374-12-X.
  • Аляксандр С. Махнач (Aljaksandr S. Machnatsch): Возвращенные имена. Сотрудники АН Беларуси пострадавшие в период сталинских репрессий (Woswraschtschennye imena. Sotrudniki AH Belarusi postradawschie w period stalinskich repressij, deutsch: Zurückgegebene Namen. Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften von Belarus, die während der Zeit der stalinistischen Repressionen gelitten haben) (PDF, ihst.ru, 1,97 MB). Навука і тэхніка (Nawuka i technika), Minsk 1992.

Einzelnachweise

Tags:

1937 Erschießung Belarussischer Kulturschaffender Ablauf1937 Erschießung Belarussischer Kulturschaffender Opfer1937 Erschießung Belarussischer Kulturschaffender Gedenken1937 Erschießung Belarussischer Kulturschaffender Rezeption1937 Erschießung Belarussischer Kulturschaffender Literatur1937 Erschießung Belarussischer Kulturschaffender Weblinks1937 Erschießung Belarussischer Kulturschaffender Einzelnachweise1937 Erschießung Belarussischer KulturschaffenderBelarusBelarussische SpracheKurapatyMassenmordMinskNKWDPischtschalauski samak

🔥 Trending searches on Wiki Deutsch:

UkraineDeutschlandStiff-Person-SyndromTürkische Republik NordzypernTimothée ChalametIsraelRonnie HellströmAmselAlbert EinsteinListe der italienischen Fußballmeister24. AprilTino ChrupallaGLand (Deutschland)HongkongOtto WaalkesSvenja AppuhnDietz-Werner SteckFallout 3Johnny DeppEigenbrauer-SyndromFallout (Fernsehserie)Ruhe unsanftWeimarer RepublikLars EidingerBrigitte NielsenDakota FanningVictoria (Vereinigtes Königreich)Elisabeth I.William Lamb, 2. Viscount MelbourneMarcel HirscherJakobswegBrustschmerzNelson MandelaDeutsches KaiserreichJeanne du Barry (Film)Ursula von der LeyenBärlauchEva MendesDemokratische Republik KongoSaudi-ArabienYouTubeMaximilian KrahSandra MaischbergerJohannes Vogel (Politiker)Rocky III – Das Auge des TigersDeutsche Demokratische RepublikHeike GreisJoshua KimmichVereinigtes KönigreichRingelrötelnPeriodensystemAmira PocherRobin WilliamsFranz KafkaFallout (Computerspielreihe)Thomas KinnePetr BystronBob Ross (Maler)Elon MuskAufmerksamkeitsdefizit-/HyperaktivitätsstörungHanfKarl MarxBenjamin KirstenAlice WeidelApache 207Laura Müller (It-Girl)TürkeiMartin Luther KingKai HavertzNormalverteilungXavier NaidooRocky VPeter HahneSalicórnia (Schiff)Liste der ältesten MenschenGreta ThunbergDienstgrade der Bundeswehr🡆 More