Verdingung: Familienfremde Unterbringung von Kindern zur Lebenshaltung und Erziehung

Verdingung bezeichnete die Fremdunterbringung von Kindern zur Lebenshaltung und Erziehung in der neueren Schweizer Geschichte.

Oft wurden die faktisch vollkommen rechtlosen Kinder in die Landwirtschaft vermittelt, wo sie als günstige Arbeitskraft ausgenutzt, meist aber auch seelisch und körperlich misshandelt und oft auch sexuell missbraucht wurden. In der Schweiz gab es die Verdingung von 1800 bis in die 1960er-Jahre.

Verdingung: Geschichte, Heutige Situation, Filme
Ein Kind, das Mangoldblätter schneidet (Bildaufnahme: Schweiz im Jahr 1917)

Ähnlich wurden offiziell bis 1921 Bergbauernkinder aus den Regionen Vorarlberg, Tirol und auch aus der Schweiz als sogenannte Schwabenkinder alljährlich im Frühjahr hauptsächlich nach Oberschwaben zur Kinderarbeit vermittelt. Im Zuge des Gewohnheitsrechts wurde dies noch lange Zeit inoffiziell weiter praktiziert, so gibt es aus der Schweiz Einzelfallberichte bis in die 1970er Jahre.

Auch in Schweden wurden „Armeleutekinder“ verdingt; ihnen hat Astrid Lindgren in ihrer Erzählung Sonnenau ein literarisches Denkmal gesetzt. Die Situation von Kindern in Grossbritannien, die nicht nur innerhalb der dort in den 1830er Jahren etablierten „Workhouses“ oder den diesen Einrichtungen angeschlossenen Fabriken und Farmen arbeiten mussten, sondern durch ihren Verkauf auch in kriminelle Tätigkeiten und Prostitution genötigt werden konnten, beschreibt Charles Dickens in seinem Roman Oliver Twist.

Geschichte

Verdingkinder, meistens Waisen und Scheidungskinder, wurden von 1800 bis in die 1960er-Jahre von den Eltern weggegeben oder von Behörden den Eltern weggenommen und Interessierten öffentlich feilgeboten. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Kinder oft auf einem Verdingmarkt versteigert. Den Zuspruch bekam jene Familie, die am wenigsten Kostgeld verlangte. Betroffene beschreiben, dass sie auf solchen Märkten «wie Vieh abgetastet wurden». In anderen Gemeinden wurden sie wohlhabenderen Familien durch Losentscheid zugeteilt. Zugeloste Familien wurden gezwungen, solche Kinder aufzunehmen, auch wenn sie eigentlich gar keine wollten.

Sie wurden meistens auf Bauernhöfen eingesetzt. Dort wurden sie oft wie Sklaven oder Leibeigene behandelt und für Zwangsarbeit ohne Lohn und Taschengeld eingesetzt. Nach Augenzeugenberichten von Verdingkindern wurden sie häufig ausgebeutet, erniedrigt oder gar vergewaltigt. Einige kamen dabei ums Leben. Diese Praxis wurde von Schriftstellern schon früh literarisch angeprangert, so von Jeremias Gotthelf in seinem Roman Bauernspiegel oder von Jonas Breitenstein in der Erzählung Das arme Annegreteli und sein Kind.

Misshandlungen wurden nur sehr selten verfolgt. Wenn solche behördlich festgestellt wurden, wurde den Pflegeeltern das Recht, neue Verdingkinder zu erwerben, für mindestens fünf Jahre entzogen.

Neben der Verfolgung der Jenischen durch die Organisation Kinder der Landstrasse, deren Kinder selbst häufig von verschiedenen Amtsstellen und (auch privatrechtlichen) Institutionen verdingt wurden, gilt die Verdingung als eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte. Erst in den letzten Jahren griffen die Medien dieses Thema intensiver auf, nachdem es lange Zeit verdrängt worden war.

Die genaue Anzahl der Verdingkinder ist unbekannt. Nach Schätzungen sind es «Hunderttausende», welche bis in die 1960er Jahre verdingt wurden. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden laut dem Berner Historiker Marco Leuenberger im Kanton Bern gegen 10 Prozent aller Kinder verdingt. 1910 sollen etwa 4 Prozent aller Schweizer Kinder unter 14 Jahren verdingt worden sein, von 1,17 Millionen Kindern sind es 47'000.

Heutige Situation

Heute lebt in der Schweiz eine vermutlich fünfstellige Zahl ehemaliger Verdingkinder, die nicht selten psychische Probleme haben. Am 12. April 2013 bat die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga die ehemaligen Verdingkinder öffentlich im Namen der Schweizer Regierung um Entschuldigung für das begangene menschliche Unrecht und bezeichnete den früheren Umgang mit den Verdingkindern als eine Verletzung der Menschenwürde, die nicht mehr gutzumachen sei. In Mümliswil (Kanton Solothurn) eröffnete die Guido Fluri Stiftung 2013 die erste nationale Gedenkstätte Mümliswil für Heim- und Verdingkinder.

Die Situation der Verdingkinder wurde 2005 im Expertenbericht Das Pflegekinderwesen in der Schweiz im Auftrag des Bundesamtes für Justiz dargestellt. Der Bundesrat schlug eine Totalrevision der Pflegekinderverordnung vor, sistierte aber 2011 die weiteren Arbeiten.

Die Zahl der heutigen Pflegekinder ist statistisch nicht erfasst und wird auf ca. 15'000 geschätzt. Kritiker bemängeln, dass die Vermittlung der Pflegekinder über Private teilweise profitorientiert erfolge und nicht staatlich geregelt sei. Wenn die Platzierung jedoch auf Wunsch der Eltern geschieht, ist diese neue Form nicht mit der alten Verdingung, sondern eher mit einem familiären Hort zu vergleichen.

Nachdem von staatlicher Seite keine Bestrebungen zur Entschädigung unternommen wurden, startete im April 2014 die Wiedergutmachungsinitiative. Diese fordert die Errichtung eines Fonds in der Höhe von 500 Millionen Schweizer Franken zugunsten der Opfer. Als indirekten Gegenentwurf zur Initiative schlug der Bundesrat im Juni 2015 die Bereitstellung von 300 Millionen Schweizer Franken für Entschädigungen vor. Am 27. April 2016 stimmte der Schweizer Nationalrat diesem Vorschlag zu, der den noch lebenden Opfern von Kinder-Zwangsarbeit ein Anrecht auf Entschädigung zwischen 20'000 und 25'000 Franken zuspricht. Am 15. September 2016 stimmte auch der Ständerat diesem Vorschlag zu.

Filme

Ausstellungen

  • Verdingkinder Reden / Enfances volées. Fremdplatzierungen damals und heute (deutsch und französisch). Tournee durch die Schweiz seit 2009, bisher 7 Stationen.
  • Waisenkinder – Verdingkinder in der Schweiz. Von Walter Emmisberger

Literatur

Siehe auch

Einzelnachweise

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