Sabinianer Und Prokulianer: Konkurrierende römische Rechtsschulen der Kaiserzeit

Die Rechtsschulen der Prokulianer und Sabinianer (auch Cassianer genannt) waren zwei rivalisierende juristische Lehreinrichtungen, die sich während der römischen Kaiserzeit in Rom etabliert hatten und auf die sich alle Konzentration des Rechtsunterrichts stützte.

Seit dem frühen Prinzipat und bis etwa Mitte des 2. Jahrhunderts haben ihnen alle bedeutenden Juristen angehört. Aufgrund der inhaltlichen Differenzen steht für die Institute der Begriff des ius controversum.

Im Rahmen der Rechtsquellenlehre sind die Schulen Vertreter des herkömmlichen „Juristenrechts“ (ius).

Wegbereiter und Lehrer

Wichtiger Wegbereiter für die lange Tradition der republikanischen Jurisprudenz war der Hellenismus. Die Hellenisierung in Kultur und Wissenschaft führte in Rom während der Republik zu Errungenschaften, die in der Kaiserzeit unbedingt bewahrt, weiterentwickelt und wohl auch auf Initiatoren zugeschnitten werden sollten. Das führt aber nicht zu Grundaussagen über den Charakter der Rechtsschulen. Die waren in Kaiserzeit einem Staatssystem ausgesetzt waren, das etliche Veränderungen mit sich brachte. Es besteht insoweit in der romanistischen Forschung bis heute keine Einigkeit, wie die Rechtsschulen der Sabinianer und der Prokulianer zu bestimmen sind. Teils werden die einst geführten Kontroversen als bloße Meinungsverschiedenheiten abgetan, die keine Idee aufkommen ließen davon, was fundamentalen Lehrmethoden entspricht, teils werden die Auseinandersetzungen ganz gegenteilig als Denkströmungen interpretiert, wie sie typischerweise aus Unterrichtsanstalten hervortreten, teils werden Rechtsschulen identifiziert, weil unterschiedliche Einlassungen auf die eingebrachten philosophischen Grundlagen der Stoa möglich sind, schließlich wird auch angenommen, dass verschiedene Grundauffassungen davon erkennbar seien, Rechtswissenschaft zu betreiben.

Soweit man sich darauf einigt, dass Lehrbetriebe bestanden, so standen bei ihnen nicht allein die methodischen Unterschiede im Vordergrund. Den Anstalten war auch daran gelegen, Persönlichkeiten hervorzuheben und zur Selbstvergewisserung als „Schule“ beizutragen, wofür eine Begründungsgeschichte gut dienlich ist. In diesem Zusammenhang wird häufig Alfred Pernice – der sich auf den Digestenbericht des Pomponius stützt – mit den in der Folge getroffenen Feststellungen herangezogen.

Als Begründer der sabinianischen Schule gilt Ateius Capito. Rückblickend betrachtet, soll er der erste gewesen sein, der zur Profilierung und Festigung eines Lehrsystems beigetragen haben soll. Erst zwei Generationen später erlangten der namengebende Masurius Sabinus und Cassius Bedeutung, noch später kamen Javolen und Julian hinzu. Von Cassius sagte Tacitus, dass er ihn für den größten Juristen seiner Zeit hielte (ceteros praeeminebat peritia legum), auch war er der Lehrer des Sabinus, zudem Aristokrat und eine bedeutsame Persönlichkeit des öffentlichen Lebens (vir prudentissimus, iuris auctor), sodass man gegenüber dem in deutlich bescheideneren Verhältnissen lebenden Sabinus vermuten könnte, die Namensgebung hätte auf ihn zurückfallen müssen. Tatsächlich etablierte sich die Bezeichnung „Cassiani“, aber Sabinus, der mit seinem Hauptwerk libri tres iuris civilis Achtungserfolge hatte, genoss den Vorteil, dass er gerade nicht der aristokratischen Nobilität entstammte und auch nicht vehement für die traditionellen Elemente der republikanischen Staatsform eingetreten war, denn das hätte ihn in potentielle Gegnerschaft zum Prinzeps (Nero) bringen können. Gleichwohl die Prinzipatsverfassung auf der Staatsform der Republik aufbaute, bestand sie nur der Form halber, denn de facto war sie um deren Wesensmerkmale längst entkernt worden.

Die Schule der Prokulianer wird häufig auf Marcus Antistius Labeo als Gründer zurückgeführt, was allerdings nicht erwiesen ist. Namentlich geht sie jedenfalls aus dem Kreis seiner Schüler hervor, wobei Proculus als vergleichsweise bedeutungslos galt. Es folgten unter anderen Nerva, Pegasus, Neraz und Celsus.

Ius controversum

Die beiden Rechtsschulen dürfen nicht als politische Antipoden verstanden werden, denn sie waren keine Institutionen im Sinne eines modernen Verständnisses, sie typisierten lediglich antike Gefolgschaften. Allerdings beriefen sie sich auf recht unterschiedliche Grundauffassungen in der Methodik ihrer Lösungen zu juristischen Einzelfragen. Die beiden Rechtstheorien waren gleichermaßen anerkannt und daher auch beide ermächtigt, das ius respondendi ex auctoritate principis auszuüben und Recht fortzubilden. Die auctoritas principis war seit Augustus verfassungsrechtlich gesichert und lieferte beiden die Legitimationsgrundlage für ein in vielen juristischen Einzelfragen streitbares, philosophisch aber beieinanderliegendes Verhältnis.

Die Arbeitsweise der Sabinianer gründete vornehmlich auf traditioneller republikanischer Rechtspraxis. Sie setzte auf die Unumstößlichkeit der auctoritas der vorklassischen Juristen. Insbesondere galt das für das Sujet der Gutachtenerstellungen (responsae). Grundsätzlich setzten die Sabinianer auf die Herstellung von individueller Gerechtigkeit, Einschränkungen konnten sich aus den Bedürfnissen des Gemeinschaftsrecht ergeben, auch war das Fortkommen von Wirtschaft zu berücksichtigen. Zum Naturrecht nahmen die Sabinianer die Grundhaltung ein, dass ius gentium – im klassischen Verständnis des Völkergemeinrechts – im Lichte der stoischen Philosophie zu interpretieren sei und normative Vorgaben enthalte.

Die Prokulianer knüpften an die klassische Tradition an. Sie nahmen das Naturrecht als ein Recht auf, das nicht allein die Menschen untereinander verbindet, sondern alle Lebewesen. Dieses ius naturale gründet auf der allen Geschöpfen eigenen Grundausstattung, dem Instinkt. Sie reflektierten darauf, dass Recht praktikabel sein muss. Gesetzestexte wurden in diesem Sinne mal restriktiver, mal extensiver ausgelegt, eingedenk der Maßgabe, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen Anwendungsfällen zu lösen war und Verbindlichkeit für alle Lösungen gefordert wurde. Mittel dazu waren Interpretationstechniken der Rechtsauslegung. Detlev Liebs bescheinigt den Prokulianern eine methodenbewusstere Arbeitsweise als den Sabinianern, deren Ergebnisse seien in der Herleitung sicherer gewesen. Das in gleicher Weise wertgeschätzte, ungeschriebene Gewohnheitsrecht unterlag dieser Logik ebenso. Die Auslegungstechnik der Juristen fußte auf Identifikation. Die Tatsachen eines rechtlich relevanten Lebenssachverhaltes glichen sie mit dem Gesetzeswortlaut ab. Das Gewohnheitsrecht, schriftlich gerade nicht fixiert, orientierte sich am gesetzesgleichen mos maiorum. Mos maiorum galt vielen klassischen Juristen als vorgegeben, die Richtnormen waren nach ihrem Verständnis damit durch interpretatio aktualisierbar.

Anfang des 20. Jahrhunderts diskutierten die Romanisten unterschiedliche Beurteilungsmöglichkeiten der römischen Methodenlehre und die Frage, ob im Sinne der Rechtsquellenlehre, „Juristenrecht“ überhaupt „Recht (ius)“ sei. Überwiegend wurde und wird das bejaht, nur unterschiedlich zugeordnet, einerseits dem geschriebenen Recht (ius scriptum) zugeschlagen, andererseits dem ungeschriebenen Gewohnheitsrecht (ius non scriptum). Eine auf Ziel, Sinn und Zweck einer Norm gerichtete, sogenannte teleologische Auslegung (sententia legis), war grundsätzlich noch unbekannt. Ebenso war eine auf die Dogmengeschichte abstellende historische Auslegungslehre noch nicht entwickelt. In diesem Zusammenhang mutet der prokulianische Hochklassiker Celsus wie ein Vordenker für viel später diskutierte Auslegungsmethoden an, wenn er abstrakte Auslegungsgrundsätze dahin formulierte, dass der Sinn über den Wortlaut des Gesetzes zu stellen sei und auf den Willen des Gesetzgebers verwies, eine Methode, die im 20. Jahrhundert die Interessenjurisprudenz forderte. Meist wurde aber der (enge) Wortlaut (verba) herangezogen.

Während die Sabinianer vornehmlich an traditionellen und empirisch-pragmatischen Vorstellungen festhielten, modernisierten sich die Prokulianer. Während die sabinianische Schule beispielsweise die Frage der Geschäftsfähigkeit (Mündigkeit) eines Knaben an der einzelfallbezogenen individuellen Reife maß, forderten die Prokulianer eine abstrakte Vereinheitlichung. Im Falle des Knaben wurde so die Vollendung des 14. Lebensjahrs gefordert, damit er als geschäftsfähig gelten konnte. Während die Sabinianer Klagansprüche aus Vertragsrecht sogar dann zuließen, wenn die zugrundeliegenden Verträge unwirksam waren, versagten die Prokulianer obligatorische Ansprüche und verwiesen zur Lösung von Subsumptionsproblemen auf Auffangklagen wie die actio in factum oder wählten untergeordnete Klagenarten, die sie bisweilen analog anwandten, wie die actio de dolo (angedacht eigentlich für Fälle der Arglist). Einen anderen eindrucksvollen Fall des Auseinanderfallens der Lehrmeinungen erinnerte Gaius bezüglich der Verarbeitung (specificatio) fremder Sachen. Die Sabinianer sprachen dem Eigentümer des verarbeiteten Materials das Eigentum zu, weil sich hieran die verarbeitete Sache fortsetzte. Anders die Prokulianer, die einen Eigentumserwerb des Verarbeiters befürworteten, weil dieser durch seine Leistung eine neue Sache geschaffen habe, wobei er jedoch bereicherungsrechtlichen Ansprüchen des Materialeigentümers ausgesetzt sei, wenn die Verarbeitung ohne dessen Zustimmung erfolgt war.

Weitere Fälle hatte Cosima Möller in kontroverser Anlehnung an Detlef Liebs begutachtet: „Die Tausch-Kauf-Kontroverse“, den „Besitz an Servituten“ oder die „Haftung nach der lex Aquilia bei nicht unmittelbarer Schädigung“.

Folgewirkungen

Etwa Mitte des 2. Jahrhunderts überholte sich der Streit der Rechtsschulen. Für die meisten Rechtsfälle hatten sich herrschende Meinungen herausgebildet. Diese entstammten entweder aus dem sabinianischen Lager oder aber dem prokulianischen Lager. Für verbliebene Kontroversen hatten sich vermittelnde Lösungen (media sententia) herausgebildet. In der Praxis hatte sich ein hohes Maß an Stabilität gebildet.

Literatur

Einzelnachweise

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