Alban Nikolai Herbst (Pseudonym für Alexander Michael von Ribbentrop; * 7.
Februar">7. Februar 1955 in Bensberg) ist ein deutscher Schriftsteller, Librettist, Kritiker und Regisseur im Bereich der Rundfunk-Hörkunst.
Alexander Michael von Ribbentrop ist ein Nachfahre Friedrich von Ribbentrops aus dem Geschlecht Ribbentrop. Er wuchs als Sohn einer Säuglingsschwester und eines Vertreters in Traunstein, Braunschweig und Bremen auf. Dort absolvierte er eine Lehre zum Rechtsanwalts- und Notarsgehilfen. Nach dem Zivildienst besuchte er in Bremen das Abendgymnasium und nahm nach dem Abitur in Frankfurt am Main das Studium der Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaften auf. Unter seinem Pseudonym erschienen ab 1981 seine ersten Werke. 1983 nahm er am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil und las direkt nach dem skandalösen Auftritt von Rainald Goetz, der sich während seiner Lesung einen Schnitt auf der Stirn zufügte. Von 1987 bis 1992 war er als angestellter Börsenmakler (Broker) bei der SEC und CFTC mit Series 7 und Series 3 lizenziert und handelte von Frankfurt am Main aus an den US-Börsen. Daneben gab er die literarische Zeitschrift Dschungelblätter heraus. Mit Erscheinen seines 1000-Seiten-Romans Wolpertinger oder Das Blau legte er seine Börsentätigkeit nieder. Seither lebt er als freier Schriftsteller. Seit 1994 wohnt er in Berlin.
Wilhelm Kühlmann bezeichnet Alban Nikolai Herbst als „eine der Führungsfiguren der literarischen Postmoderne“, während Ralf Schnell Herbsts Poetik als „das Paradoxon einer digitalen Ästhetik in Romanform“ beschreibt, wohingegen Heinz-Peter Preußer in dieser Poetik „eine zu sich selbst gekommene Postmoderne“ wähnt. Anfangs hat Herbst Texte in der Tradition des Realismus über den Alltag bundesrepublikanischer Kleinbürger geschrieben und sich seither zum Verfasser von Romanen, Novellen, Theaterstücken und Hörspielen entwickelt, die mit der Beschreibung von apokalyptischen Zuständen („Anderswelt“-Trilogie, 1998 bis 2013) und ihrer steten Vermischung von Traum und Realität (Wolpertinger oder Das Blau) zu den bemerkenswertesten Beispielen neuerer deutschsprachiger phantastischer Literatur zählen. Hans Richard Brittnacher zufolge hat Herbst ihr sogar „endgültig zum Anschluss an die literarische Moderne verholfen“. Gleichzeitig hat sich sein Werk zunehmend der Neuen Medien bemächtigt, die er nachdrücklich poetisiert und direkt zum Medium fiktiver Geschehen macht. Dabei gehen Romanerfindung, tatsächliches Alltagsgeschehen und politische Gegenwartsereignisse ungeschieden ineinander über; Realität und Fiktion werden ununterscheidbar: „Die Grenzen einer solchen Literatur sind durchlässig (...) nicht nur unter sich selbst, sondern nach außen: Für neue Techniken, für andere Künste, für fremde Texte, für die Realität.“ Mit dieser bereits in den frühen Romanen und Erzählungen angelegten Entwicklung geht Herbsts Bemächtigung des Internets einher, in das nunmehr Romanfiguren als in Echtzeit handelnde Personen implantiert werden, die als Avatare nicht mehr von tatsächlichen Personen unterschieden werden können: Der Roman geschieht real im Moment seiner Erfindung, Leser erleben ihn als ein tatsächliches Geschehen mit. Deshalb wenden sowohl Schnell als auch Ursula Reber den Begriff der Autopoiesis als Kategorie auf Herbsts Poetik an. Reber spricht von einer „Palimpseststruktur“, die mit der rhizomartigen Verwandlung der Bücher ineinander und mit der realen Außenwelt ununterscheidbar einhergeht. Dies lässt sich als Medienkritik lesen, besonders wenn man Herbsts politische Aufsätze seit dem 11. September 2001 ins Auge fasst. Es kann aber auch, wie Schnell meint, der Ausdruck einer radikal-affirmativen poetischen Verfügung über die Neuen Medien sein: „die am weitesten vorangetriebene literarische Ästhetik im Zeitalter der Digitalisierung“.
Herbsts Verfahren der Vermischung von Wirklichkeiten hat sowohl den Vorwurf der Geschichtsklitterung auf sich gezogen wie auch den der Kolportage. Überhaupt wird Herbsts Arbeit extrem gegensätzlich eingeschätzt: Die Wertungen reichen von „Scharlatan“ über „wortreicher Hochstapler“ bis hin zu „großer deutscher magischer Realist“ und „Lichtgestalt der literarischen Postmoderne“. Herbst selbst, der sich seit spätestens 2001 mit dem Aufsatz „Das Flirren im Sprachraum“ auch der theoretischen Poetik zugewandt hat, nennt seine Arbeit dokumentarisch. Ein „tatsächlicher“ Realismus sei gar nicht möglich, sondern letztlich Ideologie. Aus Herbsts primären Prosaarbeiten und theoretischen Abhandlungen, die er vor allem in Literaturzeitschriften wie Schreibheft, die horen, Kritische Ausgabe, „L. Der Literaturbote“ sowie seinem Weblog Die Dschungel. Anderswelt veröffentlicht hat, proklamiert Herbst den Begriff eines „Kybernetischen Realismus“, für dessen Grundbewegung er eine „Möglichkeitenpoetik“ reklamiert. "Ausgehend von Norbert Wieners Verständnis von Mensch und Maschine als analoge Systeme von Nachrichtenübermittlung übernimmt Herbst", so Renate Giacomuzzi, "den Begriff der Kybernetik, um damit ein ästhetisches Modell zu bezeichnen, in dem die Unterscheidung zwischen künstlich und natürlich arrangierter Welt aufgehoben ist". Wiederum Reber vergleicht Herbsts Poetologie mit den Metamorphosen Ovids.
Herbsts Vermischung von Realität und Fiktionen ist nicht ohne juristische Folgen geblieben. Im Jahr 2003 erwirkte eine ehemalige Freundin Herbsts gegen die Veröffentlichung seines Romans „Meere“ eine einstweilige Verfügung, da sie in dem Werk einen Schlüsselroman sehe, dessen Inhalt eine Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte darstelle. Der Rechtsfall lief mit leichter Zeitversetzung hinter dem ähnlich gelagerten um Maxim Billers Roman „Esra“ her und führte auch hier erst einmal zu einem Buchverbot. Jedoch anders als im Fall Biller wurde der Prozess um „Meere“ im März 2007 durch eine gerichtliche Einigung erledigt, so dass der gesamte Roman bereits im April 2007 als Vorabdruck in einer umgearbeiteten Fassung in der Wiener Literaturzeitung Volltext erschien und damit wieder einsehbar wurde – ein seit Rowohlts Rotationsromanen in solchem Umfang nicht mehr dagewesenes Literaturereignis. Seit September 2017 ist auch die unveränderte Originalausgabe wieder erhältlich. Die scheinbare Rückkehr in einen autobiografischen Realismus des Romans „Meere“ stellt sich als ein weiteres kalkuliertes Segment von Herbsts Vermischungsästhetik heraus, das letztlich sogar objektive Gerichtsverfahren zu literarischen Erscheinungen macht. Unterdessen gilt das Buch als „Meisterwerk radikal-männlicher Prosa“.
Herbst setzt sich sehr für die Bewahrung der deutschen Sprache ein. Als er auf die falschen Konjunktive in dem Roman „Die komische Frau“ von Ricarda Junge aufmerksam machte, entgegnete man ihm: „Auf Konjunktive kommt es nicht an.“ Herbst beschrieb seine Reaktion darauf in einem Interview: „'Wir dürfen es doch nicht kaputtgehen lassen!', rief ich mit wahrscheinlich schon etwas gepresster Stimme aus, fasste mich wieder und erklärte die Besonderheit des deutschen Konjunktiv II, der zwar imperativisch gebildet wird, aber keineswegs einer der Vergangenheit ist, sondern etwas ausdrückt, das nicht ist. Deshalb wird er ja Irrealis genannt. Und was bekam ich nun zu hören? –: 'Sie sind ein Sprachfaschist!'“
Seit 2007 hat sich Herbst auch der Lyrik zugewandt, zuerst mit den sechzehn Liebesgedichten „Dem nahsten Orient/Très Proche Orient“, die im selben Bändchen in der Übersetzung von Raymond Prunier zugleich auf Französisch erschienen. In seinem dritten Gedichtband „Das bleibende Thier“ (2011) widmet sich Herbst antiken Poetiken, dort dem Hexameter. Doch bereits in dem langen Erzählgedicht „Aeolia.Gesang“ (2008/Wiener Fassung 2019) werden antike bis klassische, aber auch freie moderne Verse durchlaufen. Die einzelnen Arbeitsphasen wurden auch hierfür in den durchlaufenden Arbeits- und Überarbeitungsproben auf Herbsts Weblog Die Dschungel. Anderswelt veröffentlicht und teils diskutiert – ebenso wie Herbsts ungefähr mit der eigenen Lyrik begonnene Übersetzungstätigkeit, die oft in Zusammenarbeit mit dem Lyriker Helmut Schulze angegangen wurde (James Joyce: „Giacomo Joyce“, 2013, und „Kammermusik/Chamber Music“, 2018). Auch hier ist Herbsts stark formal orientierte, durchaus neoklassizistische Poetik auffällig, die in bewusster Abgrenzung gegen die freie Rhythmik der Gegenwart gestellt wird. Diese allerdings prägt neuere lyrische Arbeiten Herbsts.
Neben seiner erzählerischen und theoretischen Arbeit ist Herbst mit Rundfunkarbeiten im Bereich der Hörkunst befasst. Auch hier fällt sein Verfahren auf, subjektive Eindrücke mit objektiver Berichterstattung untrennbar eins werden zu lassen. Dabei gilt sein Interesse sowohl den Phänomenen der großen Städte als auch vor allem anderen Autoren, die er immer wieder als quasi seine Haidnischen Altertümer, also als literarische Ahnen präsentiert, so zum Beispiel Wolf von Niebelschütz, José Lezama Lima und Louis Aragon oder den anderweitig nicht bekannten, laut Herbst „vergessenen“ Dichter und Komponisten Carl Johannes Verbeen. Reale oder vorgeblich reale Personen werden in den Hörstücken wie literarische Figuren der herbstschen Erfindung vorgestellt, zugleich wird aber ihre reale oder imaginierte Lebensgeschichte minutiös nachgezeichnet und im Fall Verbeens auch die Recherche des Autors durch „O-Ton“-Mitschnitte illustriert. Die Struktur der Hörstücke ähnelt eher musikalischen Kompositionen als Dokumentationen. Diese Eigenart ist auch für die Romane auffällig. Direkt der Musik widmet sich Herbst als Librettist, unter anderem für Caspar Johannes Walter und Robert HP Platz. In seinem Musikdenken ist Herbst von Karlheinz Stockhausen beeinflusst. Entsprechend tritt er immer wieder als Opern- und Musikkritiker in Erscheinung, dies sowohl in Zeitungen als auch auf der „Weltbühne für Künstler und Autoren“ des Autoren- und Künstlernetzwerks Faust-Kultur und den Musikrubriken seiner eigenen Webpräsenz.
Seit dem 31. Juli 2015 betreibt Alban Nikolai Herbst auf YouTube einen eigenen Kanal mit dem Titel ANH spricht Tag für Tag. In täglich erscheinenden Video-Beiträgen liest Herbst hier zumeist eigene, gelegentlich auch Texte anderer Autoren. In seiner seit dem 25. Januar 2021 bestehenden Reihe ALLES, WAS DIE WELT IST: Für jeden Tag ein Gedicht rezitiert Herbst indes ausschließlich eigene Gedichte.
Eine gute Einführung in das Werk von Alban Nikolai Herbst ist der 2008 von Ralf Schnell herausgegebene Band Nr. 231 „Panoramen der Anderswelt“ der Literatur- und Kunstzeitschrift die horen, der sich kritisch vor allem mit Herbsts Anderswelt-Romanen „Thetis. Anderswelt“, „Buenos Aires. Anderswelt“ und „Argo. Anderswelt“ auseinandersetzt, aber auch zu Romanen wie „Meere“ Auskunft gibt. Eine nicht-literaturwissenschaftliche Einführung ist der 2005 erschienene Erzählband „Die Niedertracht der Musik“ und die im Wiener Septime Verlag im Frühjahr und Herbst 2019 erschienene, von Elvira M. Gross edierte zweibändige Ausgabe der von 1972 bis in die Gegenwart entstandenen sämtlichen Erzählungen. Hier wird ein Bogen von den ersten, deutlich phantastischen über die teils expressionistischen, bald aber schon realistischen, teils im Jargon geschriebenen Phasen des Autors bis zum das spätere Werk bestimmenden „Kybernetischen Realismus“ gespannt, der teilweise nicht mehr der Postmoderne zugerechnet werden kann, sondern eine „Moderne nach der Postmoderne“ entwickelt und an der Neuen Moderne der Zehner- und Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts neu anknüpft, dabei aber auffällig mit der Literarischen Phantastik verbunden wird. Das zeigt sich nicht nur deutlich in den Büchern des Anderswelt-Komplexes, sondern auch in dem sehr viel weniger experimentellen Roman „Traumschiff“ (2015). In der 2022 erschienenen Ausgabe 236 der literaturwissenschaftlichen Fachzeitschrift text + kritik zu Alban Nikolai Herbst werden erstmals Poesie und Poetologie, Traditionen und Medien, Diskursumfeld und Selbstpositionierung dieses in der Gegenwartsliteratur singulären Werkes und seines Autors umfassend dargestellt.
Seit Frühjahr 2004 führt Herbst – bis 2013 mit Redaktionssitz im Hessischen Literaturforum im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main – unter dem Titel Die Die Dschungel. AndersweltDie Dschungel. Anderswelt. ein literarisches Weblog. Darin dokumentiert er nicht nur seine aktuelle Arbeit, sondern experimentiert auch mit einer Ästhetisierung und literarischen Reflexionen von Alltag und schriftstellerischem Arbeitsprozess. Dabei wird das Weblog selbst zum fortlaufend weitergeschriebenen Thema ständiger Betrachtung und Reflexion. Herbsts Vermischungsästhetik lässt ihn das literarische Weblog immer wieder selbst einen „Roman“ nennen. Hier findet das ineinanderströmende Beisammen von Realität und Fiktion, (vor)veröffentlichten Erzählungen und Vorträgen sowie aktueller Tagesgeschehen ihren bisher stärksten und nachdrücklichsten Ausdruck, den Herbst in einer darin ständig weitergeführten „Kleinen Theorie des Literarischen Bloggens“ zugleich mitreflektiert.
Dazu und gleichzeitig baut Herbst sein literarisches Weblog permanent in ein zunehmend umfassendes Podium für Literatur-, Kunst- und Musikkritik aus, in das Arbeits- und persönliche Notate, politische Auseinandersetzungen, Kommentare realer und erfundener Leser, Reiseerzählungen sowie auch Originalbeiträge anderer Beiträger zusammenfließen, die ihrerseits erfundene Figuren generieren. Wie eng das literarische Weblog an die in Buchform veröffentlichten Romane angelegt ist, zeigt bereits der Zusatz, den Thetis. Anderswelt, Buenos Aires. Anderswelt und das literarische Weblog Die Dschungel. Anderswelt jeweils im Titel tragen: Anderswelt.
Alban Nikolai Herbst gehörte von 1976 bis 1985 dem Verband Deutscher Schriftsteller an; er war Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und ist Mitgründer des PEN Berlin. Neben weiteren Stipendien erhielt er unter anderem folgende Auszeichnungen: 1981 das Niedersächsische Nachwuchsstipendium für Literatur, 1995 den Grimmelshausen-Preis und den Rom-Preis der Villa Massimo, der in Form eines Jahresaufenthalts als Stipendium vergeben wird, sowie 1999 den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar. 2000 war er Writer in Residence an der Keio-Universität Tokio. Für 2006 ist er für sein Werk mit einem Jahresaufenthalt in der Villa Concordia (Internationales Künstlerhaus Villa Concordia), Bamberg, ausgezeichnet worden. Nach Louis Begley (2006) wurde er 2007 auf die Poetik-Dozentur der Ruprechts-Karls-Universität Heidelberg berufen.
Personendaten | |
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NAME | Herbst, Alban Nikolai |
ALTERNATIVNAMEN | Ribbentrop, Alexander Michael von (wirklicher Name) |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Schriftsteller |
GEBURTSDATUM | 7. Februar 1955 |
GEBURTSORT | Bensberg |
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