Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) ist eine 2010 von Österreich, Bayern und Südtirol aus gestartete zivilgesellschaftliche Reformbewegung, die das Ziel verfolgt wirtschaftliche Aktivitäten auf ein demokratisch definiertes Gemeinwohl auszurichten.
Werte wie Kooperation, die Achtung der Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit (etwa Kreislaufwirtschaft), soziale Gerechtigkeit und demokratische Mitbestimmung („Partizipation“) sollen die Gestaltung sowohl von volkswirtschaftlichen als auch betriebswirtschaftlichen Prozessen leiten.
Als Instrument zur Umgestaltung schlägt die Bewegung die Anwendung der von ihr entwickelten Gemeinwohl-Bilanz vor. Eine erweiterte Bilanzierung soll nach Vorstellung der GWÖ als ein werteorientiertes Messwerkzeug und Reportingverfahren für Unternehmen, Gemeinden und Institutionen eingesetzt werden. Insbesondere größere Unternehmen stehen der vorgeschlagenen neuen Bilanzierung kritisch gegenüber, auch da eine „Suffizienzorientierung bei Produkten und Produktion sowie die Solidarität mit Wettbewerbern“ verlangte Punkte sind, an denen es zu arbeiten gelte. Ein Sprecher der Otto-Group nannte das Konzept einerseits „gut und inspirierend und auch innovationsfördernd“ andererseits sei es abzulehnen, denn es bedeute auch den Verzicht auf betriebliches Wachstum und schaffe somit die Notwendigkeit von Entlassungen.
Die Bewegung sieht sich selbst in einer historischen Tradition von Aristoteles bis Adam Smith und bezieht sich auf die Grundwerte demokratischer Verfassungen.
„Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesonders der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle [...]“
„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
«Toda la riqueza del país en sus distintas formas y sea cual fuere su titularidad está subordinada al interés general.»
„Der gesamte Reichtum des Landes in seinen verschiedenen Formen und unabhängig von seiner Trägerschaft ist dem Gemeinwohl untergeordnet.“
Im deutschen Sprachraum wurde der Begriff Gemeinwohl-Ökonomie erstmals von Joachim Sikora, Leiter des Katholisch-Sozialen Instituts der Erzdiözese Köln, verwendet. Gemeinsam mit Günther Hoffmann verfasste er 2001 die „Vision einer Gemeinwohl-Ökonomie – auf der Grundlage einer komplementären Zeit-Währung“. Als Quelle beruft er sich prominent auf die Enzyklika „Gaudium et spes“. Davon unabhängig entwickelte Christian Felber zwischen 2008 und 2010 mit Unternehmern aus Wien und Niederösterreich Ideen für ein alternatives Wirtschaftsmodell, das er 2010 als Buch unter dem Titel Gemeinwohl-Ökonomie veröffentlichte. 2011 gründete sich in Wien auf Basis dieses Buchs der „Verein zur Förderung der Gemeinwohl-Ökonomie“.
Der Begriff des Gemeinwohls ist auch im englischen, italienischen und französischen Sprachraum zu finden. Zunächst veröffentlichten die US-Ökonomen Herman Daly und John Cobb 1989 „For the Common Good. Redirecting the Economy toward Community, the Environment, and a Sustainable Future“. In Italien publizierte der papstnahe Volkswirt Stefano Zamagni „L'economia del bene comune“. In Frankreich veröffentlichte Jean Tirole, Träger des Preises der Schwedischen Nationalbank für die Wirtschaftswissenschaften 2018 „Économie du bien commun“.
Das Modell der Gemeinwohl-Ökonomie wird auf der Website der Bewegung in 10 Punkten zusammengefasst. Herzstück ist eine neue Zielvorgabe und Erfolgsmessung in der Wirtschaft. Im ersten Punkt heißt es „die Gemeinwohl-Ökonomie ist der Aufbruch zu einer ethischen Marktwirtschaft, deren Ziel nicht die Vermehrung von Geldkapital ist, sondern das gute Leben für alle.“
Das Gemeinwohl-Produkt (Makroebene), die Gemeinwohl-Bilanz (Mesoebene) und die Gemeinwohl-Prüfung (Mikro-Ebene) sollen das BIP, den Finanzgewinn und Finanzrendite als bisherige, rein monetäre Erfolgsmaßstäbe ablösen.
Je mehr Wirtschaftsakteure und -aktivitäten zum Gemeinwohl beitragen, desto stärkere Anreize sollen sie vorfinden: vom öffentlichen Einkauf und der kommunalen Wirtschaftsförderung über Finanzierungen und Steuern bis hin zum Weltmarktzugang und Welthandel. Umgekehrt sollen schädigende Aktivitäten schlechter gestellt werden. Langfristig sollen dadurch nur noch wirtschaftliche Aktivitäten rentabel sein, die keine ökologischen und sozialen Schäden anrichten.
Neben diesem Kern einer „ethischen Marktwirtschaft“ schlägt die Gemeinwohl-Ökonomie zahlreiche Reformen vor wie den Schwenk von Konkurrenz zu Kooperation, Arbeitszeitverkürzung und Sabbaticals, die Begrenzung der Ungleichheit, ethischen Welthandel oder ökologische Menschenrechte. Die konkreten Reformen sollen nach Vorstellung der Bewegung in demokratischen Wirtschaftskonventen – ähnlich den Bürgerräten in Irland, Deutschland und Frankreich – ausgearbeitet, vom demokratischen Souverän abgestimmt und in den Verfassungen verankert werden. Der Start könnte die Definition eines Gemeinwohl-Produkts werden, das sich aus 20 Teilzielen zusammensetzen und – so die Vision der GWÖ – die neue Leitvorgabe für die Wirtschaftspolitik werden könnte.
Der Beitrag, den eine juristische Person zum Gemeinwohl leistet, kann über die Gemeinwohl-Bilanz ermittelt werden. Als Kriterien werden Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitentscheidung herangezogen.
Seit dem Start im Jahr 2010 haben sich laut eigenen Angaben etwa 3.000 Unternehmen und 8.000 Personen angeschlossen (Stand Beginn 2021). Rund 200 Regionalgruppen haben sich gebildet (Stand Januar 2021). Schwerpunkte bilden dabei die DACH-Staaten, weitere Staaten in Europa sowie Süd- und Nordamerika.
Immer mehr Kommunen und Städte wenden die GWÖ an und versuchen ihre Prinzipien umzusetzen, darunter Stuttgart, Mannheim, Amsterdam, Wien und Barcelona. Der Stadtrat von Münster hat beschlossen, für sämtliche Kommunalbetriebe eine Gemeinwohl-Bilanz zu erstellen.
Die erste Gemeinwohl-Region soll laut Angaben in Höxter (Ostwestfalen) entstehen. Die dortige Gemeinwohl-Stiftung NRW fördert die Bilanzierung von Städten und Unternehmen. Die ersten drei Gemeinwohl-Städte der Welt, Steinheim, Brakel und Willebadessen, zählen zu den GWÖ-Pionieren der Region.
Die Einbettung der Gemeinwohl-Ökonomie in das europäische Wirtschaftssystem und Wirtschaftsprogramm Europa 2020 wurde ab Februar 2015 im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss diskutiert. Der Ausschuss nahm eine zehnseitige Initiativ-Stellungnahme am 17. September 2015 mit 86 % Stimmenmehrheit an und „erachtet das Modell als geeignet, in den Rechtsrahmen der EU und ihrer Mitgliedschaften integriert zu werden“.
2017 lud das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) die GWÖ ein, ihr Konzept vorzustellen. 2019 fand sie Erwähnung im UNRISD Working Paper „Sustainable Development Impact Indicators for Social and Solidary Economy“. 2019 wurde das Modell auf der UNECE-Konferenz in Genf vorgestellt – als geeignetes Instrument, die SDGs auf der Ebene von Unternehmen und Gemeinden umzusetzen.
Der Bericht an den Club of Rome von 2017 bringt Beispiele für seine Analyse, wonach sich die Welt – trotz aller Widerstände – auf dem Weg einer sozialen Transformation zu globaler Nachhaltigkeit befindet; als eines dieser Beispiele wird die Gemeinwohl-Ökonomie vorgestellt.
Auch der Bericht an den Club of Rome 2022 (earth for all) erwähnt die Gemeinwohlökonomie als das Wirtschaftsmodell einer positiven Zukunft.
Die GWÖ-Aktionskreise „Bildung“ sowie „Wissenschaft und Forschung“ koordinieren zahlreiche Aktivitäten in Bildung und Wissenschaft. Die Fachhochschule Burgenland bot 2018 gemeinsam mit dem Studienzentrum Saalfelden erstmals einen Lehrgang „Angewandte GWÖ“ an.
An der Universität Valencia wurde 2017 ein Lehrstuhl GWÖ eingerichtet. Eine erste empirische Studie an 206 Unternehmen mit Gemeinwohl-Bilanz kam zum Ergebnis, dass das GWÖ-Modell sowohl die ethische Performance von Unternehmen stark als auch die finanzielle Performance leicht verbessert. Eine Studie der Universitäten Flensburg und Kiel bescheinigt der GWÖ „das Potenzial, zu einem Wandel in Richtung einer Postwachstumsgesellschaft beizutragen“.
Eine Studie des Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) verglich mehrere NFI-Rahmenwerke auf mögliche Anforderungen eines einheitlichen gesetzlichen NFI-Standards, bei dem die Gemeinwohl-Bilanz am besten abschnitt.
Ein Vergleich von Instrumenten zur Umsetzung der SDG in KMU bescheinigte der Gemeinwohl-Bilanz ein „hohes Ambitionsniveau“. Im Herbst 2019 fand die erste 3-tägige wissenschaftliche Konferenz zur GWÖ an der Hochschule Bremen statt.
Im Dezember 2019 brachte die Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik eine Sonderausgabe Ökonomie und Gemeinwohl heraus. Anfang 2021 editierte das wissenschaftliche Journal sustainability ein Special Issue „Sustainable Economy for the Common Good“. Ein Beitrag darin von Christian Felber, Johannes Dolderer und Petra Teitscheid zeichnet den Übergang von der Neoklassischen Ökonomik zu einer Gemeinwohl-Ökonomik.
Im Juli 2022 erschien ein Sammelband mit Beiträgen verschiedener Wissenschaftler zur Gemeinwohlökonomie im Gesundheitswesen.
Die Ziele der Gemeinwohl-Ökonomie decken sich weitgehend mit den Nachhaltigkeitszielen der UN und verschiedenen Konzepten, beispielsweise der Donut-Ökonomie von Kate Raworth, der wachstumskritischen Bewegung (auch Postwachstumsbewegung, engl. degrowth movement), dem qualitativen Wachstum, der ökologischen Ökonomie und earth for all.
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