Die Befreiung der SS-Geiseln in Südtirol fand zum Ende des Zweiten Weltkrieges am 30.
April 1945 in Niederdorf (italienisch Villabassa) im Hochpustertal statt. Soldaten der Wehrmacht unter Führung von Hauptmann Wichard von Alvensleben befreiten 141 Sonder- und Sippenhäftlinge, die aus Deutschland und siebzehn weiteren europäischen Staaten stammten, aus den Händen eines SS-Kommandos. Unter den Befreiten befanden sich Totgeglaubte wie der ehemalige österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, der frühere französische Ministerpräsident Léon Blum und Pastor Martin Niemöller sowie weitere bekannte Persönlichkeiten wie der Großindustrielle Fritz Thyssen und der frühere Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht.
Ausgangspunkt war vermutlich ein Plan Ernst Kaltenbrunners, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, prominente Häftlinge als Geiseln der SS in die „Alpenfestung“ nach Südtirol zu verschleppen. Als Faustpfand sollten sie dort für Waffenstillstandsverhandlungen mit den Westalliierten zur Verfügung stehen. Im Frühjahr 1945 wurde hierfür eine Auswahl solcher Häftlinge und einiger Angehöriger aus verschiedenen nationalsozialistischen Konzentrationslagern, darunter Buchenwald, Flossenbürg und Mauthausen, im Konzentrationslager Dachau zusammengelegt. Von Dachau aus, dem sich bereits amerikanische Truppen näherten, wurden die inzwischen 141 Häftlinge aus achtzehn Nationen Europas in drei Gruppen am 17., 24. und 26. April 1945 von einem Sonderkommando der SS und des SD zunächst in das Lager Reichenau in Innsbruck deportiert. Der Transport wurde von SS-Obersturmführer Edgar Stiller geleitet. Die Begleiter waren fünfzig, nach anderen Angaben achtzig SS-Männer, die den Auftrag hatten, die Gefangenen im Zweifelsfall zu ermorden. Die meisten waren SS-Wachleute aus Dachau, die übrigen gehörten zu einem SD-Kommando unter einem SS-Untersturmführer Bader.
Von Innsbruck aus wurde der Gefangenentransport am 27. April mit Bussen und Lastwagen fortgesetzt. Am Morgen des 28. April traf der Transport bei Niederdorf im Hochpustertal Hotel am nahegelegenen Pragser Wildsee, war wider Erwarten von den Wehrmachtsgenerälen Hans Schlemmer, Hans Jordan und Alfred Bülowius mit ihren Stäben belegt.
ein. Das ursprüngliche Ziel, ein normalerweise in dieser Jahreszeit noch geschlossenesWährend Stiller nach einer Lösung suchte, ließen sich die Gefangenen von ihren Bewachern nicht hindern, zu Fuß nach Niederdorf zu gehen. Die Südtiroler Bevölkerung zeigte Sympathie und Hilfsbereitschaft. Die Gefangenen wurden teils in Gasthöfen sowie im Pfarrhof, teils auf provisorisch aufgeschüttetem Stroh im Gemeindeamt untergebracht.
Unter den Internierten befanden sich der ehemalige österreichische Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg mit Frau und Tochter, der ehemalige Wiener Bürgermeister Richard Schmitz, der frühere französische Ministerpräsident Léon Blum mit Frau, der französische Bischof von Clermont-Ferrand, Gabriel Piguet, der ehemalige ungarische Ministerpräsident Miklós Kállay, der Oberbefehlshaber des griechischen Heeres, General Alexandros Papagos, mit seinem Stab, die beim Venlo-Zwischenfall entführten Agenten des britischen Geheimdienstes Sigismund Payne Best und Richard Henry Stevens, die Theologen Johannes Neuhäusler und Martin Niemöller, der ehemalige Generalstabschef des deutschen Heeres, Generaloberst Franz Halder, mit Ehefrau, die Generale der Infanterie Alexander Freiherr von Falkenhausen und Georg Thomas, der Generalstabsoberst Bogislaw von Bonin, Philipp Prinz von Hessen, der Widerstandskämpfer und Offizier Fabian von Schlabrendorff, der Großindustrielle Fritz Thyssen mit Ehefrau, der frühere Reichsbankpräsident und Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht, die Kabarettistin und spätere Ordensschwester Isa Vermehren sowie unter den nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 festgenommenen „Sippenhäftlingen“ acht Familienangehörige von Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg (darunter dessen Bruder Alexander von Stauffenberg) und sieben aus der Familie des ehemaligen Leipziger Oberbürgermeisters Carl Goerdeler.
Am 29. April 1945 gelang es einem der Sonderhäftlinge, Oberst Bogislaw von Bonin, heimlich mit dem Oberkommando der Heeresgruppe C in Bozen zu telefonieren. Er bat General Hans Röttiger, den Stabschef des Oberbefehlshabers Südwest, des Generalobersten Heinrich von Vietinghoff, um Hilfe. Nach einem Gottesdienst in der Niederdorfer Pfarrkirche erklärte SS-Führer Stiller bei einer Versammlung, die Kontrolle an ein zuvor gegründetes Häftlingskomitee unter Leitung des britischen Geheimdienstagenten Sigismund Payne Best und die durch Bonin alarmierte Wehrmacht abgeben zu wollen. Den SS-Häftlingen drohte aber weiter Gefahr, welche von dem als skrupellos beschriebenen SS-Untersturmführer Bader und seinem SD-Trupp ausging.
Als Reaktion auf das Telefonat Bonins mit General Röttiger traf kurz vor Mitternacht Hauptmann Wichard von Alvensleben aus Moos bei Sexten in Niederdorf ein, um sich ein erstes Lagebild zu verschaffen.
Am 30. April kam Alvensleben morgens erneut nach Niederdorf, wo ihm SS-Untersturmführer Bader erklärte, dass sein Auftrag „erledigt sei, wenn die Gefangenen gestorben seien“. Alvensleben enthob Bader seiner Funktion und forderte bei seiner Kompanie in Sexten telefonisch fünfzehn mit Maschinenpistolen bewaffnete Unteroffiziere an, die wenig später das Gemeindeamt umstellten, wo die SS ihr Quartier aufgeschlagen hatte. Nachdem zusätzliche hundertfünfzig Grenadiere aus Toblach eingetroffen waren und den Platz vor dem Gemeindeamt umstellt hatten, konnte Alvensleben mit telefonischer Rückversicherung aus Bozen durch SS-Obergruppenführer Karl Wolff den SS-Untersturmführer Bader und seinen SD-Trupp dazu bringen, abzuziehen.
Die Wehrmacht übernahm nun den Schutz der befreiten SS-Gefangenen. Wie Alvensleben später erklärte, war der kampflose Abzug von Baders SD-Trupp „das alleinige und eindeutige Verdienst des Karl Wolff“, der Alvenslebens „eigenmächtiges Unternehmen sanktionierte und der SS gegenüber autorisierte“.
Da die drei Wehrmachtsgeneräle mit ihren Stäben inzwischen auf Anweisung von Generaloberst Vietinghoff umquartiert worden waren und das Hotel „Pragser Wildsee“
verfügbar war, wurden die befreiten Häftlinge am Abend des 30. Aprils dorthin gebracht. Dort organisierten sie unter Leitung der Hotelbesitzerin Emma Heiss-Hellensteiner das Notwendigste. Wehrmachtssoldaten sicherten mit fünf Maschinengewehren das Hotelareal. SS-Obersturmführer Stiller, der mit dreißig seiner Männer ebenfalls im Hotel unterkommen wollte, wurde abgewiesen.Kaltenbrunner versuchte weiterhin, die Geiseln wieder in seine Gewalt zu bringen. Von der Geheimen Staatspolizei in Klagenfurt soll Hans Philipp, der Gestapo-Chef von Sillian, am 1. Mai den schriftlichen Befehl erhalten haben, die Häftlinge zu ermorden bzw. sie über die Grenze ins Deutsche Reich zu bringen. Während Niederdorf im italienischen Südtirol liegt, befindet sich Sillian zwanzig Kilometer östlich davon jenseits der italienischen Grenze im damaligen Großdeutschen Reich. Philipp führte dies aber nicht aus und nahm sich laut Sterbebuch am 4. Mai 1945 mit Schlaftabletten das Leben.
Zwei Tage nach der bereits am 29. April 1945 mit Vollmacht von Generaloberst Vietinghoff und SS-Obergruppenführer Wolff in Caserta unterzeichneten, aber erst am 2. Mai offiziell in Kraft getretenen Kapitulation der Wehrmacht in Italien trafen am 4. Mai amerikanische Truppen am Pragser Wildsee ein und übernahmen die Gefangenen.
Einen Tag später erschienen Journalisten und Pressefotografen von alliierter Seite und die Ereignisse machten außerhalb von Deutschland Schlagzeilen. Darin blieb allerdings der Beitrag von Alvenslebens unberücksichtigt.
In zwei Transporten, die am 8. und 10. Mai aufbrachen, gelangten dann die ehemaligen Geiseln unter US-amerikanischer Bewachung über Verona nach Neapel . Die Deutschen wurden anschließend im heute nicht mehr existierenden Hotel „Eden Paradiso“ (→ Lage) in Anacapri auf der Insel Capri interniert, wo die „Odyssee“ für alle als „unbelastet“ geltenden Gefangenen schließlich endete. Die meisten von ihnen wurden allerdings erst im Juni 1945 zurück in ihre Heimat geflogen.
Für einige der Deutschen mündete die Übernahme durch die Amerikaner in eine erneute und in der Regel mehrjährige Gefangenschaft, so für Oberst von Bonin, die Generale von Falkenhausen und Halder, den Industriellen Fritz Thyssen und Philipp von Hessen. Hjalmar Schacht wurde beim Nürnberger Prozess als Hauptkriegsverbrecher angeklagt, jedoch 1946 freigesprochen.
Karte mit allen Koordinaten der „Odyssee“ von Dachau bis Capri: OSM | WikiMap
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Am 2. oder 3. Mai 1945 kam ein SS-Mann aus Stillers Wachmannschaft mit einem Papierbündel zu Sigismund Payne Best, der das Häftlingskomitee leitete, und teilte ihm mit, SS-Obersturmführer Stiller verbrenne gerade alle Papiere, die er bei sich hat. Er habe einige in seine Tasche gesteckt, als Stiller nicht aufpasste. Als Best die Papiere untersuchte, stellte er fest, dass die meisten reine Routinebefehle waren. Es war jedoch ein Umschlag mit einem „Schnellbrief“ dabei, den der Chef der Gestapo, SS-Gruppenführer Heinrich Müller, am 5. April 1945 an den Leiter des KZ Dachau, SS-Obersturmbannführer Eduard Weiter, geschickt hatte.
In diesem „Schnellbrief“ kündigte Müller die Überstellung von zehn Sonderhäftlingen ins KZ Dachau an, die dort auch tatsächlich wenig später eintrafen und inzwischen allesamt in Niederdorf befreit worden waren. Dies waren Generaloberst Franz Halder, General Georg Thomas, Hjalmar Schacht, Kurt Schuschnigg mit Frau und Kind, General Alexander von Falkenhausen, Sigismund Payne Best, der Molotow-Neffe Kokorin und Oberst Bogislaw von Bonin.
Dieser „Schnellbrief“ ist ein wichtiges historisches Dokument, weil auf seiner zweiten Seite die unauffällige Liquidierung des Schutzhäftlings „Eller“ (Georg Elser) angeordnet wird. Elser, der 1939 im Münchener Bürgerbräukeller einen misslungenen Anschlag auf die NS-Führung verübt hatte, wurde kurz nach Eingang dieses Schreibens im KZ Dachau erschossen, ohne, wie im „Schnellbrief“ angeordnet, auf den nächsten Luftangriff zu warten und auch ohne das Schreiben „nach Kenntnisnahme und Vollzug“ zu vernichten.
In den Erinnerungen einiger der befreiten SS-Geiseln ist die Rede von einem Befehl, den sie zum Teil persönlich in Schriftform gesehen haben wollen. Auf Grund dieses Befehls habe Baders SS-Trupp die Gefangenen oder zumindest einen Teil von ihnen auf jeden Fall oder aber spätestens dann erschießen sollen, wenn sie den Alliierten in die Hände zu fallen drohten. Ein derartiger schriftlicher Befehl ist jedoch nicht überliefert. Ob es im ungünstigsten Fall tatsächlich zur Tötung der Gefangenen gekommen wäre, hält Hans-Günter Richardi, der die Geschichte der SS-Geiselbefreiung intensiv erforscht hat, für spekulativ.
Einige der in Niederdorf befreiten Sonder- und Sippenhäftlinge haben ihre Erinnerungen an die Ereignisse in Niederdorf aufgezeichnet und zum Teil in Autobiografien veröffentlicht, u. a. Sigismund Payne Best, Hugh Mallory Falconer, Fey von Hassell, Bertram Arthur „Jimmy“ James, Josef Müller, Hermann Pünder, Fabian von Schlabrendorff, Kurt von Schuschnigg und Isa Vermehren.
An dieses Geschehen erinnert heute das Zeitgeschichtsarchiv Pragser Wildsee, das im Jahre 2006 von Caroline M. Heiss und Hans-Günter Richardi im Hotel „Pragser Wildsee“ gegründet wurde.
Erinnerungen Beteiligter:
Zeitschriften:
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