Was wir vom Kriege sahenOb-Ost
von Fritz Hartmann
Erste Sorgen
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III. Die Etappe
Hannover, 31. Oktober.

Wieder daheim. In den nächsten Wochen werde ich mich bei keinem Stellennachweis für Arbeitslose zu melden brauchen. Aus meinen Notizen und sonstigem Sammelstoff habe ich mir dicke Aktenbündel heften lassen. Ich hätte sechs Hände und drei Köpfe nötig, dies alles zu sichten und zeitungsmäßig auszuwerten. Denn der Dank an unsere Gastgeber und Führer kann nur in einer wahrheitstreuen Darstellung des Geschauten bestehen. Für die Frontkämpfe sind Kriegsberichterstatter da. Solche waren wir nicht. Nenne uns meinetwegen Etappenreiseonkels.

Von den Schützengräben ist schon viel, über die Etappe erst wenig geschrieben. Man sieht sie nicht so recht für voll an im Hart auf Hart dieses Völkerringens. Höchstens so wie den Troß hinter der Kampftruppe. Die Gedanken der Heimat fliegen zur Front; die der Front zur Heimat, aber beide fetzen wie Dauerflieger mit kühnem Hochtrieb in Wolkenhöhe über die Staffel hinweg.[21] Was da unten kribbelt und murkst, scheint von da droben klein und der Beachtung unwert.

Und doch ist’s ein weites Feld, wie Effi Briests Vater immer zu sagen pflegt, wenn ihm weiter nichts mehr einfällt. Kriegsarbeit wird nicht bloß getan, wo es knallt. Wenn die Waffen ein Gebiet erobert haben, dann ist die Sache damit keineswegs erledigt. Vielmehr fängt die Sorge nunmehr erst recht an. Namentlich im Osten, wo die breite Natur der Vorbesitzer nie gewohnt war, sich Sorgen zu machen.

Hindenburgs glückhafter Vorstoß hat im Sommer und Herbst 1915 zunächst Kongreßpolen befreit. Dann aber konnte er auf vier weitere russische Gouvernements die deutsche Reckenfaust legen. Kurland, Kowno, Wilna und Grodno. Nur von diesen rede ich. Sie haben 3 Millionen Einwohner. Das sagt nicht genug, da das Land dünn besiedelt ist. Aber es ist zugleich so groß, wie Ost- und Westpreußen, Posen und Pommern zusammengenommen. Man könnte daher vier Königreiche vom Raumgehalte Belgiens daraus zurechtschneiden.

Die russischen Beamten waren samt und sonders entflohen, wie der Mietling, der nicht[22] Hirte ist. In unsere Hand war ein Wagen gefallen, dessen Pferde scheu geworden, dessen Lenker abgesprungen waren. Alle Zügel schleiften am Boden. Die Zustände der ersten Tage erbrachten eine kleine Probe darauf, wie es käme, wenn über Nacht der anarchistische Staat eingeführt würde.

So konnte es nicht bleiben. Die Neuordnung aber, wem konnte sie anders zufallen, als dem einzigen Herrn, dem deutschen Heere?

Wir stellen uns Hindenburg immer nur als Heerführer vor. In unserer Einbildungskraft lebt er einzig nach Vogels Bild, wie er mit Ludendorff vor den Karten die Kriegslage bespricht.

Wer aber weiß oder ahnt, daß dies Feldherrntum nur die eine Seite der ungeheuren Verantwortung dieser beiden Dioskuren gewesen? Vielleicht noch nicht einmal die des emsigsten Kopfzerbrechens. Und doch ist’s so. Derweil sie den Feind schlugen, haben sie zugleich auch aus dem Nichts heraus für das Gebiet Ob. Ost eine neue durchgreifende Verwaltung schaffen müssen. Keine Wurstelmaschine, sondern ein Ding, das sich sehen lassen kann. Eine Organisation ist erwachsen, die alle politischen, alle wirtschaftlichen Verhältnisse umspannt und in diesen wogenden Kriegszeiten[23] schon viel umsichtiger, hemmungsloser arbeitet, als die russische im tiefen Landfrieden je getan.

Rein aus sich heraus. Denn Eingearbeitete waren nicht zur Hand. Von der Bewohnerschaft keine nennenswerte Hilfe zu erwarten. Man hatte sie ja stets von den Staatsgeschäften ferngehalten. Selbstverwaltung? Du grundgütiger Himmel; in der Heimat der Beamtenallmacht! Auch findet sich wenig natürliche Anstelligkeit bei ihnen. So sind selbst die Eingeborenenbeiräte nicht ohne Mühe zustande gebracht, deren man zur besseren Ortskenntnis bedurfte. Nur in den unteren Stellen finden sich Heimische. Als Dolmetscher, Schreiber, Buchhalter, Türhüter und Botengänger; im Außendienst als Waldhüter oder Hilfsschutzleute. In letzterer Eigenschaft treten sie am sichtbarlichsten in Erscheinung. An jeder Straßenecke. Leute mit einer Dienstmütze, aber sonst im Bürgerrock; eine weiße Stempelbinde um den Ärmel und einen ehrfurchtgebietenden Konstablerknüppel am Faustriemen. Vor jedem Offizier stehen sie stramm. Nachts üben sie den Dienst gemeinsam mit einem Landsturmmann. Jeder Zivilist, der nach 11 Uhr ohne Durchlaßschein über die Straße geht, erhält freies Nachtquartier.[24] Die Landpolizei hingegen wird von unserer Feldgendarmerie gehandabt. Sie ist durch Landsturmreiter verstärkt. Der blanke Ringkragen wird mit scheuer Achtung geschaut.

Ob. Ost ist also kein Generalgouvernement wie Belgien oder Warschau. Es ist eine rein militärische Sache.

Das Gebiet ist in vier Bezirke gegliedert. Kurland mit dem Mittelpunkt Mitau, Litauen mit dem Sitze in Kowno; Wilna-Suwalki und Bialystok-Grodno werden je von der erstgenannten Stadt ihres Doppelnamens aus regiert.

Jede dieser Verwaltungen zerfällt wieder – ähnlich einer deutschen Regierung – in verschiedene Sparten. Für politische Angelegenheiten, Finanzleitung, Kirche und Schule, Handel und Rohstoffversorgung. Landwirtschaftsfragen, Postbetrieb, Forstwesen.

Über allen steht der Chef des Stabes und der Oberquartiermeister beim Oberbefehlshaber Ost. Diesem selber stehen die letzten Entscheidungen zu. Alle Gesetze und Verordnungen werden von ihm erlassen.

Die Stellen sind mit Angehörigen des Heeresstandes besetzt. Wohl zu merken: mit solchen, die[25] nicht mehr oder noch nicht wieder felddienstfähig sind. Die Etappendrückerei ist ein mißgünstiges Gevatternsumsala.

Wo die Berufung von Zivilpersonen nötig wurde, sind diese in den Beamtenkörper des Heeres eingegliedert. Sie tragen daher das Feldgrau mit den Verwaltungsabzeichen. Jedoch sind ihrer nur wenige. Das deutsche Volksheer ist ja ein unerschöpflicher Segensborn. Was man auch braucht, vom Kunstkonservator bis zum Betriebsleiter einer Konservenfabrik oder Armeeschlächterei, vom Preßdezernenten zum Sägemüller, stets finden sich Fachkräfte unter den Leuten unseres Beurlaubtenstandes.

Aber auch Berufsoffiziere stellen ihren Mann, auf welchen Verwaltungsposten man sie schickt. Die Schule des Krieges hat die Kriegsschule ergänzt. Sie machen alles, wenn’s befohlen ist; selbst Dinge, die sie bisher bloß vom Hörensagen kannten. Immer wieder fiel mir ein Wort bei, das einmal ein alter Oberst an fröhlicher Hochzeitstafel, aber voller Selbstüberzeugung, gesprochen. Sein Sohn, ein 15jähriger Kadett, hatte eine forsche Tischrede gehalten, und ich freute mich ihres Schneides. Der Vater aber sagte:[26] „Ein preußischer Offizier muß alles können. Meine sämtlichen Leutnants sind unmusikalisch wie die Kängeruhs. Wenn ich aber einem sage: „Zu übermorgen habe ich von Ihnen einen neuen Armeemarsch“, mein Wort, er macht ihn mir, und wenn er bisher auch immer die „Wacht am Rhein“ mit dem Jungfernkranz aus dem „Freischütz“ verwechselt hat. Das Ding wird vielleicht nicht ganz so gut ausfallen, als ob’s von Beethoven wäre. Aber, verlassen Sie sich drauf, es gibt Schlechteres.“