Das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (kurz Tourette-Syndrom) ist eine angeborene Erkrankung des Nervensystems.
Klassifikation nach ICD-10 | |
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F95.2 | Kombinierte vokale und multiple motorische Tics [Tourette-Syndrom] |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Klassifikation nach ICD-11 | |
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8A05.00 | Tourette syndrome |
ICD-11: Englisch • Deutsch (Entwurf) |
Häufig ist die Ursache durch Veränderungen am Erbgut bedingt. Hauptmerkmale sind unwillkürliche Bewegungen (Tics, von französisch tic ‚nervöses Zucken‘) und ebenfalls Tic-artige Laut- oder auch sprachliche Äußerungen. Einfache motorische Tics können sich als Augenblinzeln, Naserümpfen, Kopfwerfen oder Grimassenschneiden äußern. Beispiele für einfache vokale Tics sind das Ausstoßen von bedeutungslosen Lauten, Husten oder das Nachahmen von Tiergeräuschen. Unter die Kategorie der komplexen Tics fallen im motorischen Bereich das imitierende Grimassenschneiden und das Nachmachen von Handlungen anderer. Komplexe vokale Tics sind das Nachsprechen von Wörtern oder das Herausschleudern obszöner und aggressiver Ausdrücke.
Das Tourette-Syndrom wird zu den zentralnervösen Bewegungsstörungen gerechnet. Primäre Tic-Störungen können weder geheilt noch ursächlich behandelt werden. Es stehen lediglich lindernde Behandlungsansätze zur Verfügung.
Die Bezeichnung nennt den französischen Neurologen und Psychiater Georges Gilles de la Tourette, der das Krankheitsbild erstmals 1884/1885 auf Anregung seines Lehrers Jean-Martin Charcot beschrieb. Schon 1825 hatte Jean Marc Gaspard Itard über entsprechende Symptome einer seiner Patientinnen berichtet.
Bei Kindern liegt die geschätzte Verbreitung bei 0,3 bis 0,9 Prozent. Bei Erwachsenen ist die Häufigkeit erheblich geringer. Unterschiede in der Häufigkeit im internationalen Vergleich werden auf kulturelle Unterschiede zurückgeführt, da die Symptome selbst überall ähnlich sind und daher auf gemeinsame biologische Ursachen hindeuten. Bei Jungen wird es etwa dreimal so häufig wie bei Mädchen diagnostiziert.
Das Tourette-Syndrom weist spezifische Leitsymptome und in der Regel weitere Auffälligkeiten auf. Das konkrete Erscheinungsbild variiert von Patient zu Patient. Bei Tics handelt es sich um unwillkürliche, rasche, meistens plötzlich einschießende und mitunter sehr heftige Bewegungen, die immer wieder in gleicher Weise einzeln oder serienartig auftreten können. Lautliche, ungewollte Äußerungen wie Ausrufe oder Geräusche zählen mit dazu.
Hauptsymptome sind motorische und lautliche Tics verschiedener Art, die häufig erstmals im Grundschulalter auftreten und sich meist bis ungefähr zum 14. Lebensjahr voll ausprägen. Eine Verstärkung ist oft in der Pubertät festzustellen. Bei einigen Patienten lassen die Tics zwischen dem 16. und 26. Lebensjahr wieder nach, bei der Mehrheit der Betroffenen bleiben die Symptome bis zum Lebensende.
Einfache motorische Tics können sich als Augenblinzeln, Naserümpfen, Kopfwerfen oder Grimassenschneiden äußern. Beispiele für einfache vokale Tics sind das Ausstoßen von bedeutungslosen Lauten, Husten oder das Nachahmen von Tiergeräuschen. Die Unterschiedlichkeit der Symptome ist groß, sodass jeder Betroffene ein eigenes Erscheinungsbild zeigt, das sich mit der Zeit auch verändern kann.
Unter die Kategorie der komplexen Tics fallen im motorischen Bereich das imitierende Grimassenschneiden und das Nachmachen von Handlungen Anderer (Echopraxie). Selbstverletzendes Verhalten, auch bei tic-artiger Wiederholung, wird jedoch anderen – möglicherweise begleitenden – Störungen zugerechnet. Komplexe vokale Tics sind das Nachsprechen von Wörtern (Echolalie bzw. Palilalie) oder das als Koprolalie bekannte Herausschleudern obszöner und aggressiver Ausdrücke.
Die Symptome können entweder permanent auftreten, mehrfach am Tag (zumeist in Serien) oder nur in Belastungssituationen. Typisch ist auch die Fähigkeit vieler Betroffener, ihre Tics über bestimmte Zeiträume hinweg zu unterdrücken. Es wurde festgestellt, dass sie – im Vergleich zu Gesunden – insgesamt eine erhöhte Fähigkeit haben, die Auslösung von Bewegungen zu kontrollieren. Dies wurde auf einen Trainingseffekt durch die Unterdrückung von Tics und entsprechende Anpassungen im Gehirn zurückgeführt. Die Übung der Unterdrückung könne daher ein sinnvoller Teil der Therapie sein.
Die häufigste der möglichen Begleiterkrankungen (Komorbidität) ist die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Eine andere häufige begleitende Erscheinung ist die Zwangsstörung. Weitere Störungen kommen vor, jedoch ist hierbei oft unklar, ob es sich dabei nicht eher um Teilaspekte der beiden zuvor genannten hauptsächlichen Begleiterkrankungen handelt.
Die Betroffenen leiden vor allem unter der Reaktion der Umwelt auf ihre Symptome. Gerade weil Menschen mit Tourette-Syndrom keinen oder nur wenig Einfluss auf ihre Tic-Symptomatik haben, werden die mit dem Tourette-Syndrom verbundenen Auffälligkeiten häufig als schlechte Angewohnheiten gedeutet. Dies führt oft auch zu Schuldgefühlen bei den Eltern wegen ihrer vermeintlich verfehlten Erziehung. Als Heranwachsende stoßen die Betroffenen in Öffentlichkeit und Schule auf viel Unverständnis und Ablehnung, was wiederum zu einer Verstärkung der Auffälligkeiten führen kann. Auch Erwachsene mit Tourette-Syndrom werden vielfach diskriminiert und erfahren oft Einschränkungen in ihrer beruflichen und privaten Entfaltung. Außenstehende fühlen sich oft durch die unwillkürlichen Tics persönlich provoziert. Dies ist besonders bei Koprolalie und Kopropraxie zu beobachten und kann zu einer Zuspitzung solcher Situationen führen. Tourette-Patienten sind gewöhnlich ebenso leistungsfähig wie ihre Altersgenossen und können, sofern keine schweren Begleiterkrankungen vorliegen, am gesellschaftlichen Leben voll teilnehmen.
Personen mit Tourette-Syndrom haben bei manchen Aufgaben eine verlängerte Reaktionszeit, was unter anderem mit ihrer Übung in motorischer Kontrolle durch die Unterdrückung von Tics in Verbindung gebracht wurde.
Zur Frage der motorischen Geschicklichkeit gibt es widersprüchliche Ergebnisse, was mit möglichen unberücksichtigten Einflüssen begleitender Störungen in Verbindung gebracht wurde.
Der Neurologe und Schriftsteller Oliver Sacks thematisiert den Zusammenhang zwischen Tourette und Musik in zwei Kapiteln seiner Bücher. Das Syndrom sei impulsiv und produktiv. Es könne einerseits zu repetitiven Bewegungen führen, andererseits eine „elaborierte, phantasmagorische Form annehmen“. Menschen mit einem phantasmagorischen Tourette-Syndrom könnten, wenn es ihnen gelänge, es nutzbar zu machen, „eine überschäumende und fast unbezähmbare Kreativität an den Tag legen“. Der amerikanische Komponist Tobias Picker, der das Tourette-Syndrom hat, ist während des Komponierens und Musizierens frei von Tics. Er selber glaubte, dass die Tics Eingang in sein kreatives Vorstellungsvermögen gefunden haben. Der englische Pianist Nick van Bloss sieht sein Tourette-Syndrom als Energie, die er beim Musizieren nutzt und kanalisiert. Besonders attraktiv seien nach Sacks der Jazz und die Rockmusik wegen ihrer schweren Beats und der Freiheit zur Improvisation.
Oliver Sacks thematisierte in seinen verschiedenen Publikationen das Verhältnis des Tourette-Syndroms zum Selbst des betroffenen Menschen. Das Syndrom entwickle im Laufe des Lebens eine oft komplizierte Verflechtung mit der Persönlichkeit. Die Beziehung könne so destruktiv sein, dass einige Patienten „angesichts des verwirrenden Chaos und des gewaltigen Drucks der Impulse“ kaum ihre wahre Identität fänden. Anderen Patienten gelinge es, das Syndrom in ihre Persönlichkeit zu integrieren und „aus dem rasenden Tempo der Gedanken, Assoziationen und Einfälle, die dieses Syndrom mit sich bringt, einen Nutzen zu ziehen.“ Das Syndrom könne zu „ungewöhnlichen und manchmal verblüffenden Leistungen“ führen.
Als zentraler Ort der Störungen haben sich die Basalganglien, insbesondere das Striatum, erwiesen. Die im letzteren liegenden Kerngebiete des Nucleus caudatus und des Putamen sind bei den Betroffenen in ihrer Größe vermindert. Bildgebende Verfahren zeigten, dass ihre Aktivität mit der Häufigkeit von Tics korrelierte. Auf zellulärer Ebene wurde hier in Untersuchungen nach dem Tod (post mortem) eine verminderte Anzahl von Parvalbumin exprimierenden sowie von cholinergen Interneuronen festgestellt.
Des Weiteren bestehen umfangreiche Hinweise, dass die dopaminerge Signalübertragung im Striatum gestört ist.
Erbliche Komponenten für das Krankheitsrisiko sind vielfach nachgewiesen, und sie sind stärker als bei anderen neuropsychiatrischen Erkrankungen. Ausschlaggebende Genabweichungen sind noch nicht gefunden worden. Man geht davon aus, dass eine Vielzahl von Abweichungen beteiligt ist und deshalb bislang (Stand Dezember 2015) über die Erblichkeit im konkreten Einzelfall keine Aussagen möglich sind.
Ein möglicher Zusammenhang zwischen Abweichungen im Immunsystem und Störungen in der Gehirnentwicklung, die zu einem erhöhten Risiko für eine Ausprägung des Tourette-Syndroms führen könnten, werden seit vielen Jahren untersucht. Bislang (Stand Dezember 2015) liegen hierzu jedoch noch keine gesicherten Erkenntnisse vor.
Viele der in der Kindheit vom Tourette-Syndrom Betroffenen erfahren im Laufe bzw. nach Abschluss der Pubertät ein Abklingen der Symptome, andere zeigen auch als Erwachsene das Vollbild des Tourette-Syndroms. Ebenso sind fluktuierende Verläufe mit abwechselnden Schweregraden bekannt. Das Tourette-Syndrom selber hat jedoch, auch bei chronischem Verlauf, keinerlei Auswirkungen auf die Lebenserwartung und ist auch nicht mit einem geistigen Abbau verbunden.
Die Diagnose des Tourette-Syndroms wird anhand der beobachteten Symptome und des bisherigen Krankheitsverlaufs gestellt. Gerade leichtere Verläufe werden häufig übersehen oder falsch eingeordnet, sodass einige Jahre bis zur Stellung einer korrekten Diagnose vergehen können. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie empfiehlt als Basisdiagnostik:
Primäre Tic-Störungen können weder geheilt noch ursächlich behandelt werden. Es stehen lindernde Behandlungsansätze zur Verfügung, die jedoch nicht die Krankheit an sich heilen. Die beobachtbaren Symptome lassen sich hauptsächlich durch Behandlung mit Psychopharmaka aus der Gruppe der Neuroleptika mindern, jedoch sind die meisten Personen mit Tourette-Syndrom nicht so schwerwiegend beeinträchtigt, dass eine Medikation oder sonstige fachliche Hilfen notwendig werden. Bei der Beurteilung der Wirksamkeit einer Behandlungsstrategie spielen auch starke Fluktuationen im Symptomverlauf, wie sie für das Tourette-Syndrom typisch sind, eine Rolle. Gleichzeitig ist die Studienlage zur Therapie von Tic-Störungen weiterhin mangelhaft. Die Behandlungen stützen sich in der Regel auf Fallberichte.
Direkte Vergleiche der Arzneistoffe fehlen weitgehend; eindeutige Therapieempfehlungen lassen sich aus bisher erhobenen Daten nicht ableiten. In der Praxis erfolgt die Behandlung daher aufgrund der Erfahrung des behandelnden Facharztes, der Behandlungskosten und des Zulassungsstatus des fraglichen Arzneistoffs (häufig auch Off-Label-Behandlungen). Die medikamentöse Behandlung führt oft zu einer mäßigen Tic-Reduktion (etwa 50 %), nicht aber zur vollständigen Symptomfreiheit.
Psychoedukation und Verhaltenstherapie werden ergänzend eingesetzt. In den Europäischen Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung des Tourette-Syndroms von 2011 wurden erstmals klare Kriterien benannt, wann, wie und mit welchen Medikamenten eine Behandlung der Tics in Betracht gezogen werden sollte. Zur Abklärung individuell abgestimmter Therapiemaßnahmen ist daher der fachliche Rat von Ärzten, vorzugsweise von Kinder- und Jugendpsychiatern, Psychiatern oder Nervenärzten einzuholen.
Wenn aufgrund der Schwere der Erkrankung oder begleitender Störungen (zum Beispiel Zwangssymptome) eine medikamentöse Intervention erforderlich wird, stehen verschiedene Präparate zur Verfügung. In Deutschland werden gewöhnlich Tiaprid oder Sulpirid eingesetzt – auch Quetiapin retard ist ein Mittel der Wahl. Pimozid und Haloperidol seien vermutlich nebenwirkungsreicher und daher nur noch als Reservemedikamente bei starken Tics in Gebrauch. Risperidon ist das am besten untersuchte und in Europa auch das mit Abstand am häufigsten eingesetzte Medikament zur Behandlung von Tics und wird von der European Society for the Study of Tourette Syndrome (ESSTS) als Medikament der ersten Wahl empfohlen. Falls Tiaprid, Sulpirid und Risperidon nicht in Frage kommen, gilt Aripiprazol in jüngster Zeit (Stand Januar 2016) als nächstliegende Alternative. THC, einer der Hauptwirkstoffe von Cannabis, ist für eine mögliche Anwendung seit 2001 untersucht worden. Eine systematische Übersichtsarbeit, die von Cochrane 2009 veröffentlicht wurde, kam jedoch zu dem Ergebnis, dass es keine ausreichenden Erkenntnisse gäbe, die eine Behandlung mit THC begründen könnten.
Ein spezielles Übungsverfahren aus dem Spektrum der Verhaltenstherapie, das Habit-Reversal-Training, erwies sich bei leichten Krankheitsverläufen als mäßig (max. 30 %) symptomlindernd. Auch können pädagogische, sonderpädagogische und heilpädagogische Beratung wegen der häufig auftretenden Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen hilfreich sein. Begleitend stehen auch Entspannungsverfahren zur Verfügung. Diese haben das Ziel, Stresssituationen, die zu einer Verstärkung der Tics führen, zu reduzieren.
Positive Ergebnisse sind auch aus der Musiktherapie bekannt. Teilweise lassen sich nervöse Impulse durch das Spielen eines Instruments ableiten. Besonders geeignet erscheinen hierzu schnelle Instrumente sowie Instrumente, bei denen der Spieler mit Händen und Füßen aktiv ist, zum Beispiel das Schlagzeug und die Orgel. Auch kommt die Neigung zur Palipraxie dem steten Wiederholen von Phrasen, Takten und Tonleitern beim Üben entgegen.
Tiefe Hirnstimulation wird inzwischen erfolgreich in schweren und nicht anderweitig zu behandelnden Fällen eingesetzt, in Deutschland an entsprechend spezialisierten Universitätskliniken. Der optimale Zielpunkt der tiefen Hirnstimulation ist jedoch noch Gegenstand der aktuellen Forschung. Zudem ist zu beachten, dass die aktuell vorliegenden Studien zu dieser Thematik nur sehr geringe Patientenzahlen aufweisen, sodass eine endgültige Bewertung des therapeutischen Nutzens der tiefen Hirnstimulation aktuell noch schwierig ist.
Nach US-amerikanischem Vorbild bildeten sich auch in anderen Ländern Hilfsorganisationen, die sich allgemein zur Aufgabe machen, durch Information und Aufklärung mehr Toleranz zu erreichen, aber auch die Ausbildung von Fachpersonal zu verbessern, sodass sowohl medizinische Früherkennung als auch pädagogischer Umgang mit den Symptomen gefördert werden. Zudem wird die Hilfe zur Selbsthilfe propagiert, und Selbsthilfegruppen bieten die Möglichkeit des Austausches unter Betroffenen.
In Deutschland wurde 1993 der Tourette-Gesellschaft Deutschland e. V. (TGD) gegründet, 2007 folgte der Interessenverband Tic & Tourette Syndrom (IVTS).
In der Schweiz wurde 1996 die Tourette Gesellschaft Schweiz (TGS) gegründet.
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