Kurs:Riemannsche Flächen (Osnabrück 2022)/Vorlesung 1

Riemannsche Flächen sind Flächen, die „lokal“ so „aussehen“ wie eine offene Kreisscheibe innerhalb der komplexen Zahlen . Deshalb nimmt die Theorie der riemannschen Flächen immer wieder Bezug auf Eigenschaften von Teilmengen der komplexen Zahlen und von darauf definierten Funktionen. Letzteres ist der Gegenstand der (komplexen)Funktionentheorie, die das lokale Fundament für die riemannschen Flächen bildet.



Holomorphe Funktionen

Wir fassen einige wichtige Ergebnisse der komplexen Funktionentheorie zusammen. In den Anfängervorlesungen werden differenzierbare Funktionen von nach bzw. von nach (und höherdimensionale Varianten in Analysis II)in der Regel parallel behandelt, wir verwenden als gemeinsames Symbol für oder .Beispielsweise ist die Definition der Differenzierbarkeit (und zwar egal, ob man mit demLimesim Sinne vonDefinition 18.2 (Analysis (Osnabrück 2021-2023))oder mit linearer Approximierbarkeit im Sinne vonSatz 18.5 (Analysis (Osnabrück 2021-2023))arbeitet)unabhängig vom Grundkörper - im reellen Fall ist der Limes über einem Intervall zu nehmen, im komplexen Fall über einer offenen Kreisumgebung. Bei wichtigen Gesetzmäßigkeiten wie der Produktregel, der Quotientenregel, der Kettenregel, der Ableitung der Umkehrfunktion etc. gibt es weder in der Formulierung noch im Beweis einen Unterschied. Es gibt aber auch Aspekte der Differentialrechnung, wo sich die reelle von der komplexen Situation unterscheidet. Die Besonderheiten in der komplexen Situation werden in der (komplexen)Funktionentheorie behandelt. Grundsätzlich kann man sagen, dass die komplexe Differenzierbarkeit sehr viel stärkere Implikationen mit sich führt als die reelle Differenzierbarkeit. Wir erwähnen ohne Beweis einige Hauptresultate der Funktionentheorie, im Reellen ist es sehr einfach, Gegenbeispiele zu diesen Aussagen anzugeben.


Definition  

Eine auf einer offenen MengedefinierteFunktion

heißtholomorph, wenn siekomplex differenzierbarist.

Polynome, rationale Funktionen, die Exponentialfunktion, die trigonometrischen Funktionen sind komplex differenzierbar, also holomorph. Warum ein neuer Begriff? Von holomorph spricht man eigentlich nur dann, wenn der folgende Satz schon bekannt ist und man dann beliebig zwischen den verschiedenen Konzepten hin- und herwechseln kann.


Satz

Für eine auf einer offenen MengedefinierteFunktion

sind folgende Aussagen äquivalent.

  1. istkomplex differenzierbar.
  2. ist unendlich oft (stetig) komplex differenzierbar.
  3. lässt sich in jedem Punkt in eine Potenzreihe entwickeln, d.h. istkomplex-analytisch.

Eine diskrete Teilmengeist eine Teilmenge mit der Eigenschaft, dass es zu jedem Punkteine Kreisumgebung mitgibt. Polynome besitzen nach Korollar 11.7 (Analysis (Osnabrück 2021-2023))nur endlich viele Nullstellen und endliche Teilmengen sind diskret. Aber auch die trigonometrischen Funktionen und die komplexe Exponentialfunktion besitzen eine diskrete (aber nicht endliche)Nullstellenmenge. Dies gilt für beliebige holomorphe Funktionen.


Satz

Es seieinezusammenhängendeoffene Teilmengeundeine von der Nullfunktion verschiedeneholomorphe Funktion.

Dann ist die Nullstellenmenge von diskretundabgeschlossen(in ).

Eine zusammenhängende offene Teilmenge in nennt man auch ein Gebiet. Die beiden folgenden Aussagen(die zweite heißt Identitätssatz)folgen daraus unmittelbar.


Korollar  

Es seieinezusammenhängendeoffene Teilmengeundeine holomorphe Funktion.

Wenn die Nullstellenmenge von einen Häufungspunktin besitzt, so ist die Nullfunktion.

Beweis  

Dies ist eine Umformulierung vonSatz 1.3.

Es kann dabei aber durchaus sein, dass die Nullstellenmenge einen Häufungspunkt in besitzt.



Korollar  

Es seieinezusammenhängendeoffene Teilmengeund seienholomorphe Funktionen. Die Übereinstimmungsmenge von und ,also besitze einenHäufungspunktin .

Dann ist.

Beweis  

Dies folgt direkt ausKorollar 1.4,wenn man die Differenz betrachtet.


Die beiden folgenden Sätze heißen Maximumsprinzip und Satz von Liouville.


Satz

Es seieinGebietund seieineholomorphe Funktionmit der Eigenschaft: Es gebe einen Punktmit

für alle.

Dann ist konstant.



Satz  

Es seieineholomorphe Funktion, die beschränktsei.

Dann ist konstant.

Beweis  

Es seifür alle.Man kann dannLemma 15.1 (Funktionentheorie (Osnabrück 2023-2024))für die Potenzreihe (für einen beliebigen Entwicklungspunkt )für jeden Radius anwenden und erhält

worausfür allefolgt.



Die Cauchy-Riemannsche Differentialgleichung

Die komplexen Zahlen bilden einen zweidimensionalen reellen Vektorraum mit der reellen Basis und .Entsprechend kann man eine auf einer(zumeist offenen)Teilmengedefinerte Funktionauch als eine Abbildungauffassen und die komplexe Differenzierbarkeit in der einen Variablen mit der reellen partiellen Differenzierbarkeit der beiden Komponentenfunktionen bezüglich den reellen Koordinaten und in Beziehung setzen. Die Bedingungen in der folgenden Aussage heißen die Cauchy-Riemannsche Differentialgleichungen.



Satz  

Es sei offenund eine im Punktreelltotal differenzierbareAbbildung. Es seimit reellwertigen Funktionen .Sei.

Dann ist genau dann in komplex differenzierbar,wenn für die reellenpartiellen Ableitungendie Beziehungen

gelten.

Beweis  

Die reelleJacobi-Matrixvon im Punkt ist

Diese beschreibt eine reell-lineare Abbildung

bezüglich der reellen Basis und und die komplexe Differenzierbarkeit bedeutet, dass sie auch komplex-linear ist. Die Multiplikation mit einer komplexen Zahl wird reell durch die Matrix

beschrieben, und die Bedingungen im Satz beschreiben genau diese Beziehungen.


Bei einer reell differenzierbaren Abbildung

ist dastotale Differentialin einem Punkteine reell-lineare Abbildung

Diese wird zumeist durch eine Matrix bezüglich der reellen Standardbasis und beschrieben. NachLemma Anhang 1.2kann man jede reell-lineare Abbildung zwischen komplexen Vektorräumen in eindeutiger Weise als eine Summe einer komplex-linearen und einer komplex-antilinearenAbbildung schreiben. Im Fall der reellen Differenzierbarkeit setzt man daher

und

Es gilt dann umgekehrt

und



Korollar  

Es sei offenund eine reelltotal differenzierbareAbbildung.

Genau dann ist auf komplex differenzierbar,wenn auf gilt.

In diesem Fall ist

Beweis  

Wir schreibenmit reellwertigen Funktionen.Es istund.Somit ist

Die Bedingungen inSatz 1.8für die komplexe Differenzierbarkeit besagen gerade, dass die beiden Komponentenfunktionen gleich sind. Es ist generell

Unter der Voraussetzung verschwindet der vordere zweite Summand. Daher ist gleich der ersten Spalte der Jacobi-Matrix, und diese ist .


Wenn man für eine reell-differenzierbare Funktionzerlegt, so ist

die Zerlegung des totales Differentials bzw. der Jacobi-Matrix in -lineare und antilineare Matrizen. Dabei ist genau dann holomorph, wenn die zweite Matrix zur Nullmatrix wird.



Umkehrabbildung und implizite Abbildungen

Zu den wichtigsten Sätzen aus der Analysis 2 gehören der Satz über die Umkehrabbildung und der Satz über implizite Abbildungen, an deren komplexe Versionen wir erinnern.


Satz

Es seien und endlichdimensionale-Vektorräume,seioffenund es sei

einestetig differenzierbare Abbildung. Es seiein Punkt derart, dass dastotale Differential

bijektivist.

Dann gibt es eine offene Mengeund eine offene Menge mitund mitderart, dass eineBijektion

induziert, und dass die Umkehrabbildung

ebenfalls stetig differenzierbar ist.

Eine biholomorphe Abbildung besitzt eine weitere starke Eigenschaft, sie ist winkeltreu.

Wir nennen eine bijektive holomorphe Abbildung zwischen offenen Mengen biholomorph, der Satz behauptet also, dass eine komplex-differenzierbare Abbildung, wenn das totale Differential in einem Punkt bijektiv ist, dort auf einer offenen Umgebung bereits eine biholomorphe Abbildung induziert. Schon die eindimensionale Situation von diesem Satz ist eine starke Aussage. Wir formulieren sie direkt für holomorphe Funktionen.


Korollar  

Es seieineoffene Teilmenge,ein Punkt und eine holomorphe Funktionmit.

Dann gibt es eine offene Umgebungund eine offene Umgebungderart, dass die Einschränkung von auf biholomorphzu ist.

Beweis  

Dies ist der eindimensionale Spezialfall vonSatz 1.10.



Satz

Es seioffenund sei

einestetig differenzierbare Abbildung.Es seiund es seidieFaser durch. Dastotale Differential seisurjektiv.

Dann gibt es eine offene Menge, ,eine offene Mengeund eine stetig differenzierbare Abbildung

derart, dassist und eineBijektion

induziert.

Die Abbildung ist in jedem Punktregulärund für das totale Differentialvon gilt

Der Satz behauptet insbesondere, dass die Faser lokal in Bijektion zu einer offenen Menge des steht. Man kann aber im Moment noch nicht sagen, dass die Faser lokal biholomorph zum ist, da wir noch keine holomorphe Struktur auf der Faser erklärt haben. Dies ist eben eine der Aufgaben der komplexen Analysis, wozu die riemannschen Flächen gehören. Für die Theorie der riemannschen Flächen ist bereits der Fallundentscheidend. Die Stärke der Aussage zeigt sich in der folgenden Anwendung über die Existenz von Wurzeln aus Funktionen.



Satz  

Es seieineoffene Menge,ein Punkt undeineholomorphe Funktionmit.Es sei.

Dann gibt es eineoffene Umgebungund eine holomorphe Funktionmit.

Beweis  

Wir betrachten die holomorphe Funktion

in zwei Variablen, es sei ein Punkt mit.Es ist.Die Abbildung besitzt die partiellen Ableitungen und . Im Punkt ist definitiv die zweite partielle Ableitung , daher ist das totale Differential in diesem Punkt surjektiv und man kann(eine explizite Version von)Satz 1.12anwenden. D.h. es gibt eine auf einer offenen Menge definierte holomorphe Funktion

die auf der Faser von über liegt underfüllt. Damit ist

alsofür alle.


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